110. Print-Ausgabe, Frühlings-LUST 2012
 
Schwules Leben und das Normative
In der schwulen Szene gibt es, wenn man über das Verhatlen, das Leben und das Zusammenleben miteinander spricht, keine anderen Ansichten als das, was in der heterodominierten Gesellschaft für normal gehalten wird.

Als schwuler Mann war man meist in seiner Kindheit und Jugend angepasst und brav, tat meist das, was die Mutter erwartete und spielte mit Gleichaltrigen bisweilen dann, wenn es Mädchen waren, zumindest bist zu jenen bedeutsamen Übergängen.
 
Bei diesen Übergängen, beim nicht mehr zu unterdrückenden Erkennen der eigenen körperlichen Sexualfunktionen, tat sich schrittweise eine Welt auf, bei der weder die Mutter noch die Spielkameradinnen eine wesentliche Rolle spielten. Was aber wollte man nun von den Männern oder den Jungs genau?

Angeboten werden uns die heterosexuell strukturierten Ordnungsvorgaben: Freundschaft mit einem Mädchen, Sex mit ihr, die Ehe, Kinder, vielleicht alles an anderer Reihenfolge.

Als schwuler Mann lebt man gewöhnlich in vielen mehr oder weniger vertrauten Beziehungen: mit den Arbeitskol-legInnen, mit der Herkunftsfamilie, mit den FreundInnen in den diversen Freizeitszenen, politischen Zusammenhängen usw., wohin uns der Zufall eben verschlagen hat. Dort spielen wir zumeist schon bald eine wichtige Rolle. Solche be-freudeten Gruppen versiegen auch oft, wenn nämlich die GruppenteilnehmerInnen nach und nach heiraten.

All diese Beziehungen, in denen wir aufgehen und uns hingebungsvoll engagieren, haben etwas Gemeinsames: sie sind ohne sexuelle Erfüllung. Das Anstreben sexueller Erfüllung dort führt er-fahrungsgemäß zum Fiasko. Wir lernen also: Beziehung und Sex zusammen passt nicht so ganz. Das ist bei den Heten ganz anders. Dort ist das Sexuelle das Fundament der Beziehung. Und so haben wir schon bald gelernt, wir haben ein mehr oder weniger befriedigendes Beziehungsleben und ein völlig davon getrenntes Sexualleben.

Dieses Sexualleben, das wir in Klappen, Darkroos, Saunen und Pornoläden usw. anbahnen oder gleich auch ausleben, es dient dem Kennenlernen, neuerdings über das Internet, es folgt meist nichts Nennenswertes. Dieses unser Sexleben ist ein anderes Leben, eine andere Welt, die außerhalb der von mir dargestellten Beziehungen schwuler Männer existiert.

Dieser Teil des schwulen Lebens spielt sich auch außerhalb der „Toleranten“ oder der „schwulen Frauen“ (als Schwu-lenmuttis) ab. Es gibt ja überall tolerante Heten beiderlei Geschlechts, die gedanklich unser Leben in ihre Beziehungs-, Mann-Frau- und Sexmuster einfügen und danach unser Leben, bzw. das, was sie davon mitbekommen können und wollen, bewerten und nach ihrem Muster beurteilen.

Und je nach dem, wie sie mit uns sympatisieren oder uns eher negativ sehen, werten sie dann das, was sie dann in unser Leben projizieren, wie wir seien, als Grundlage der uns entgegengebrachten Achtung oder Verachtung. Viele ihrer unerfüllten Sehnsüchte, viele Ängste und äußerst seltsame Vorstellungen projizieren sie in unser Leben. Anders gesagt, wir dienen ihnen als Projektionsfläche ihrer verkoksten Sexualität.

Das wesentliche Moment unser schwulen Lebens ist die unerfüllte sexuelle Sehnsucht. Die Sehnsucht ist auch dann unerfüllt und vielleicht gerade dann, wenn wir gerade einen Sexpartner haben, mit dem wir eine Zeitlang regelmäßig verkehren. Auch wir kennen es, wenn wir um diese Sexualität eine Beziehung aufzubauen versuchen. Die ldeidet an den heterosexuellen Mustern und Vorgaben.

Unser Spiel, Männer kennenlernen zu wollen, mit denen wir sexuell verkehren wollen, ist so geartet, dass wir zwar durchaus Sex bekommen, aber nie vollständig das, was wir uns ersehnen. Immer ist es ein Kompromiss. Die sexuelle Dauerspannung endet vorübergehend mit der gegenseitigen sexuellen Entspannung (wenn überhaupt), aber dies befriedigt nicht rundum und kann es auch nicht. Immer fehlt was, was uns weiter umtreibt.

Nur einmal hatte ich in meinem Leben die Situation, in der ich sagen konnte, dass ich sowohl die Beziehung betreffen als auch die erlebte Sexualität vollkommen zufrieden war. Ich lebte (und lebe noch) in einer schwulen (sexlosen) und einer heterosexuellen (sexlosen) tiefen Beziehung und Freundschaft gleichzeitig, und ich hatte (ca. 6 Jahre lang) einen mich jede Woche besuchenden Sexpartner, der mir tatsächlich völlige sexuelle Befriedigung verschaffte.
 
Ob ich ihm gleichzeitig auch völlige sexuelle Befriedigung verschaffte, weiß ich nicht. Befriedigung schon, aber eine Beziehungsnähe, die mich beunruhigt hätte, wenn er nicht völlig zufrieden wäre, hatte ich nicht empfunden. Danach, nach der sexuellen Entspannung mit ihm, konnte ich ihn jedes mal nicht mehr ertragen, denn sein Leben, seine Werte, sein Verhalten, das alles passten einfach nicht in und zu meinem Leben.

Und auch für meine Beziehungspartner war es entlastend, als er eines Tages nicht mehr kam. Ich nehme an, dass er wohl eine engere Beziehung mit mir anstrebte und erkennen musste, dass die Beziehungsplätze schon besetzt waren, Es war nicht das Sexuelle, es war das lästige Drumherum, was uns trennte.

Doch nun ist mein Sexleben wieder so, wie das schwule Sexleben normalerweise ist: im wesentlichen völlig unbefriedigend, wenn auch entspannend. Versuche, Beziehung und Sex zusammen zu erleben, funktionieren in der Regel nur kurze Zeit, dann ist beides wieder weg (Siehe „Beziehungen von Schwulen“ auf S. 12).

Die häufigste Sexualität, die wir erleben, ist die mit uns selber. Unsere sexuellen Phantasien sind mit der Zeit so speziell, dass sie sich in der Realität auch gar nicht erfüllen können. Da sind zuerst mal die Typen, die Traumprinzen, die vom Aussehen und von ihrem Verhalten her völlig an unsere Träume angepasst sind, die, um es in realistischen Bildern auszudrücken, völlig um unseren Körper gewickelt sind, genauer: um unseren Schwanz oder die völlig in unserem Loch stecken, falls wir so empfinden, oder aber beides.

Oft sind in unseren Wunschträumen auch wirklich unerfüllbare Sehnsüchte, nämlich solche, die mit einem sehr großen Altersunterschied zu tun haben. Das würden wir in der Realität niemals zugeben, nicht während wir noch sehr jung sind und nicht, während wir schon sehr alt sind.

Am sexuell zufriedensten lebt vielleicht der schwule Mann, der einfach mitnimmt, was sich ihm bietet und der bei der gekonnten Suche nach dem Mann für die Nacht und der darauf folgenden Entspannung gar nicht die Zeit und den Druck hat, sich über die gauen Inhalte seiner Unbefriedigtheit Gedanken zu machen, weil er immer derart ausgetobt, ausgespritzt oder ausgelutscht ist, dass es für Stunden reicht.

Je differenzierter jemand sucht, desto weniger befriedigend wird er leben. Und so lange dauert die Zeit seines Lebens nicht, in der ein schwuler Mann mit einigem Realismus wagen kann, auf Wunder zu hoffen. (js)
 
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