70. LUST, Frühling 02

Auf die 69. LUST bezieht sich der folgende Brief an uns:
Hallo!
Ich hab mir letztens zum ersten Mal die „Lust“ gekauft und muss euch ein großes
Lob aussprechen! Alles sehr informativ! Den Bericht „Zwischen den Beinen“ fand
ich sehr interessant und regt zum Nachdenken an. Besonders gut hat mir auch die
Glosse auf Seite 22 gefallen.
Also, weiter so!!!
Jutta aus M.-Walldorf
 
Trotz ihrer Länge hier eine Kritik an der LUST:
Transsexuelle in der Politik
Daß Leigh Varis-Beswick in den Gemeinderat von Kalgoorlie-Boulder gewählt wurde (siehe LUST 55, S. 24), ein Kaff in Australien, das wohl kaum eine oder einer kennt, der diese Zeilen liest, wäre eigentlich uninteressant. Eigentlich. Schließlich ist die 49jährige Leigh in der Bundesrepublik völlig unbekannt, hat kann nichts vorzuweisen, was (in der Bundesrepublik Deutschland) von gesellschaftlichem Interesse ist. Aber dem ist nicht so. Weil sie transsexuell ist, weil sie eine transsexuelle Vergangenheit hat, wird diese Nicht-Nachricht plötzlich zu etwas Besonderem, etwas Außergewöhnlichem. Dieses eine Merkmal in ihrer Biographie, dieser Ausschnitt, der so viel über ihre politischen Fähigkeiten und ihr Engagement aussagt wie ihre Augenfarbe, ihre Schuhgröße oder ihre Haarlänge, erheischt Aufmerksamkeit und verdrängt andere Informationen, die sicherlich aufschlußreicher wären: Gehört sie einer Partei an? Wenn ja, welcher? Wie verhält sich diese Partei gegenüber Lesben, Schwulen, Transsexuellen und Transgendern? Welche Ziele hat Varis-Beswick? Geht es ihr um Transgenderpolitik oder liegen ihre Interessen eher woanders, z.B. im Umweltschutz oder im Bildungsbereich? Die Meldung in der LUST schweigt darüber beredt. Deshalb ist sie überflüssig!
Bloß weil etwas am Arsch der Welt geschieht, rutschen solche Meldungen unter Vermischtes. Im öffentlichen Bewußtsein, wenn überhaupt, dürfte wohl nur die geschaßte Bürgermeisterin von Quellendorf, Michaela Lindner, geblieben sein, für die die schwule QUEER (Köln) und der transsexuelle VIVATISSIMUS (München) vergeblich gekämpft haben. Also: nur miese Presse über Transsexuelle? Ja. Oder doch nicht? Nun ja, mit ein wenig Mühe bei der Recherche ist das schon verbunden - aber dann ändert sich das Bild. Und zwar gewaltig. Momentaufnahmen, in denen letztlich beliebige Namen verheizt werden, bringen da nichts. Die werden schneller vergessen, als sie gelesen werden! Das läßt sich nicht schönreden, da bleibt nichts hängen. Wer kennt denn schon Namen von transsexuellen Politikerinnen und Politikern? Niemand. Dabei gibt es sie. Und wie es sie gibt. Nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa. Im Vereinigten Königreich (U.K.) gibt es mehrere, unter eine Mann-zu-Frau- Transsexuelle, die ihr Coming-out in ihrer Amtszeit hatte und von der engagierten Transgender-Bürgerrechtsbewegung Press For Change (PFC) unterstützt und begleitet wird. Stephen Whittle, PFC-Vorsitzender, sitzt auf kommunaler Ebene im Parlament. Über die Homepage der PFC (http://www.pfc.org.uk) lassen sich leicht weitere Namen herausfinden. Was Eurozentriker sicher verstören wird, ist Fulvia Celica, eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle, die sich für eine Kandidatur um das Bürgermeisteramt von Lima, Peru, beworben hat, aber bei der Stimmenauszählung betrogen wurde. Sie hat versprochen, sich als Revanche für die Diskriminierung um eine Kandidatur für den Nationalkongreß bei den Wahlen im Jahr 2000 zu bewerben. Der transsexuellen Neuseeländerin Jacqui Grant ist es zwar nicht vergönnt gewesen, die nötigen Stimmen für das Amt der Bürgermeisterin im neuseeländischen Gey District zu erhalten, aber sie sitzt, zum wiederholten Male wie betont werden muß, im Council. Daß das in Neuseeland nichts mit Diskriminierung zu tun hat, beweist der Erfolg Georgina Beyers, die mehrere Male Bürgermeisterin von Carterton wurde, zuletzt mit überwältigenden 90 %! Soweit mir bekannt ist, erwägt sie aufgrund ihres Erfolges, für das oberste Regierungsamt zu kandidieren! Eine Information, die wohl keines Kommentars bedarf. Daß Dana International eine politische Karriere in Israel ins Auge faßt, dürfte inzwischen bekannt sein. Und was ist mit Deutschland? Außer Michaela Lindner (PDS) natürlich. Wie wäre eine andere Sichtweise im Fall ,,Lindner Superstar”? Hat sie sich nicht selbst ein Bein gestellt, indem sie aggressiv um das Mitleid der Medien gebettelt hat? Waren die langen Nasen der Quellendorfer Bevölkerung nicht letztlich die Quittung für ihr Geschleime: Liebt-mich-doch-WEIL-ich-transsexuell-bin? Könnte die Sache nicht anders verlaufen sein, wenn sie sich zurückhaltender verhalten hätte, wenn sie es nicht in die gesamte Republik hinausposaunt hätte? In Deutschland gibt es nämlich auch Transsexuelle, die sich kommunalpolitisch engagieren. Mir persönlich ist eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle in Schleswig-Holstein bekannt, die im Gemeinderat irgendwo in Südschleswig (Kreis Rendsburg-Eckernförde) sitzt und auch kirchliche Ehrenämter bekleidet, ohne daß sie sich ständig wegen ihrer Vergangenheit rechtfertigen muß. Zur Debatte steht nur die Qualität ihrer Politik, der Rest ist ihre Privatsache. Sie ist sich ziemlich sicher, daß ihr Erfolg auch damit zusammenhängt, daß sie kein Brimborium veranstaltet hat. Sie hat sich auf sich selbst verlassen, hat genug Selbstbewußtsein gehabt, um sich ohne mediale Blitzlichtgewitter durchzusetzen. Sie hat sich auf die Integrität ihrer Person verlassen und sich nicht selbst feige auf das Merkmal Transsexuell reduziert. Sie ist sich ihrer Vergangenheit bewußt und versteckt sie nicht, aber läßt sich keine Scheuklappen anlegen, die sie auf Transsexualität fixieren. Eine solche Pseudoemanzipation lehnt sie ab, weil sie sie für eine Sackgasse hält.
Kann sein, daß es noch andere Namen gibt. Ich weiß nicht alles, und ein enzyklopädischer Bericht sollte dies sowieso nicht werden. Diskretion ist eine Art des Respekts, die zur Menschenwürde gehört, deshalb gehe ich davon aus, daß sich weitere Namen nur auf persönlicher Ebene, in einem Vertrauensverhältnis, herausfinden lassen. Vielleicht ist das ein leiser Erfolg der transsexuellen Emanzipation, den diese Menschen durch ihr Menschsein und eben nicht durch ihr Transsexuellsein mühsam errungen haben. Quod erat calygrantum.
Britta Madeleine Woitschig, Kiel

Wenn wir Informationen haben, veröffentlichen wir sie auch. (Red)
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