65. LUST, April/Mai 01
 
Coming-out
ist eine entscheidende Situation im Leben eines Menschen, nämlich das zu akzeptieren, was man schon vorher geahnt oder befürchtet Hatte: “Ich bin homosexuell”. Und nun muss man lernen, wie das ist, lesbisch oder schwul zu sein.
Hallo LesbGayGirl und OldGayMan,
ich wende mich an Euch, weil ich die 62. LUST in einem Buchladen gesehen und darin geblättert habe und die Art gut finde, wie Ihr uns Tipps gebt. Vielleicht könnt Ihr mir helfen.
Nun zu meinem Problem. Seit ungefähr einem Jahr weiß ich, dass ich Frauen mehr liebe als Männer. Meine Eltern wissen nichts davon, weil sie sehr streng sind und eine Freundin bestimmt nicht dulden würden. Aber deshalb schreibe ich Euch nicht. Ich habe mich in Karin verliebt, eine Mitschülerin, die neuerdings zu einer rechten Gruppe gehört. Und das ist mein Problem.
Sie hält nämlich nichts von Schwulen und erzählt ziemlich bösartige Schwulenwitze, so wie die Typen in ihrer rechten Gruppe in unserer Klasse auch. Sie macht zwar keine Witze über Lesben, aber dann kann sie ja auch nichts von Lesben halten, wenn sie solchen Schwulenwitze erzählt. Und nun weiß ich nicht, ob ich ihr offenbaren kann, dass ich sie liebe. Was würdet Ihr mir da raten?
Dann noch eine zweite Sache. In unserer Klasse ist ein Junge, der Kai, der bekannt gegeben hat, dass er schwul ist. Auf den hat sich Karin ganz besonders eingeschossen, weil der auch noch immer so einen Blödsinn erzählt. Und nun müsste ich ihm zuhalten, weil er als Schwuler angegriffen wird, und ich müsste zu Karin halten, weil er so einen Blödsinn erzählt. Was soll ich da nur tun?
Um Euch ein Bild von dem Streit zu geben, schildere ich mal eine typische Streitsituation. Die Karin sagt manchmal zum Aram ”Ausländer raus!”. Dann mischt sich der Kai immer ein, sie soll doch den Aram in Ruhe lassen, obwohl der immer die blödesten Schwulenwitze erzählt. Ob Kai ihn liebt? Auf jeden Fall isoliert sich der Kai vollständig, mit seinen Ansichten. Alle in der Klasse halten nichts von Ausländern. Nur den Aram, den können sie leiden, weil er coole Sprüche über Schwule und Kurden drauf hat.
Neulich hat Karin zu Aram gesagt, dass die Kriminalität in Deutschland zu 90% von Ausländern ausgeübt wird. Und der Kai widerspricht ihr da, sie könnte keine Prozentzahlen angeben, obwohl man doch die ganzen Ausländer immer an der Konstablerchwache rumlungern sieht. Die sind Drogendealer, das weiß doch jeder, und deshalb mache ich immer einen großen Bogen um sie. Was hat Kai denn nur davon, wenn er sich auf der Seite von Aram stellt, wenn Karin sagt: ”Kriminelle Ausländer raus!” Kai und Aram regen sich dann beide auf, sie würde damit alle Ausländer als Kriminelle erklären, und Karin sagt dann nur, das würden sie sich bloß einbilden. Zu Kai sagt sie dann: ”Schwul und doof zusammen ist einfach zu viel!” Und dann lachen alle und auch der Aram, weshalb der Kai dann immer sauer ist.
Eine Freundin, der ich das erzählt habe, sagt zu mir, ich soll ja nicht zu Kai halten, der wäre auch nur ein Mann, obwohl er schwul ist. Schwule Männer würden Lesben auch unterdrücken. Und ich meine ja auch, dass Karin meistens recht hat. Es gibt ja zu viel Kriminalität, und die hat auch etwas damit zu tun, dass die Linken die Familie kaputtgemacht haben, viele Eltern fremdgehen und ihre Kinder nicht genügend beaufsichtigen. Da kann ich doch nicht zu Kai stehen, wenn er etwas anderes behauptet.
Antwortet mir doch mal bitte. Ich würde mich auch freue, wenn Ihr den Brief in Eurer Zeitschrift veröffentlicht und dort beantwortet, weil ich mir denken kann, dass das auch andere Jugendliche interessiert. Aber dann müsst Ihr die Namen verändern.
Gitta aus Frankfurt
 
Hallo Gitta,
erst jetzt sind wir dazu gekommen, Deinen Brief in der LUST zu veröffentlichen, weil erst einmal Platz dazu da sein musste, und weil wir uns, LesbGayGirl und OldGayMan, erst einmal dazu zusammensetzen wollten. Dann haben wir die Antwort an Dich zusammen verfasst, weil wir meinen, dass die sowohl Lesben als auch Schwule (nicht nur) im Coming-out angeht. Wir haben es uns mit der Antwort an Dich nicht leicht gemacht, denn in Deinem Brief haben wir viele Punkte entdeckt, zu denen wir Dir etwas sagen müssen und wollen. Wie Du sehen kannst, haben wir alle Namen verändert.
Zuerst einmal, da bist Du ja in einer ganz schönen Zwickmühle, in Deinem Coming-out, zwischen Deinen Eltern, der Gruppe, zu der Karin gehört, zwischen Deiner Verliebtheit in Karin und Deinem Wunsch, mit Kai solidarisch zu sein. Das ist alles andere als einfach. Wir werden uns nun den Brief Satz für Absatz vornehmen und schreiben, was uns dazu einfällt. Dies machen wir deshalb öffentlich, weil wir, wie Du schon selbst schreibst, die von Dir angesprochenen Themen für wichtig auch für unsere LeserInnen halten.
 
1. Sie hält nichts von Schwulen. Soll ich ihr offenbaren, dass ich sie liebe?
Jemanden zu offenbaren, dass man ihn/sie liebt, ist die schwierigste Situation, die man sich vorstellen kann. Das trifft auch dann zu, wenn eine Frau es einem Mann gesteht oder umgekehrt. Warum? Wer sich offenbart, der mancht sich angreifbar. Man gibt etwas von sich preis. Damit kann der/die andere, wenn er/sie uns nicht wohlgesonnen ist, sehr verletzend sein. Und nun käme noch dazu, dass Du ihr ja zugeben würdest, dass Du eine lesbische Verliebtheit empfindest. Und auslachen, das ist da noch harmlos, aber eben auch sehr verletzend. Sich jemanden gegenüber anzuvertrauen, und darum geht es bei einem solchen Geständnis, das kann man nur, wenn man das Gefühl hat, dass der/die andere dieses Wissen über uns nicht gegen uns missbrauchen wird. Es ist dies so, als ob wir ein großes Geheimnis lüften.
Natürlich kennen wir das Mädchen nicht, von dem Du berichtest, und auch wenn wir sie kennen würden, könnten wir nicht voraussagen, wie sie reagieren wird. Du müsstest auch versuchen einzuschätzen, wie die anderen MitschülerInnen reagieren würden, falls Karin damit so umgehen würde, wie sie mit Kai umgeht. Vielleicht wäre sie auch erfreut, dass jemand sich ihr so anvertraut. Vielleicht hättest Du aber auch keine schöne Stunde mehr in der Klasse und an Deinen anderen Orten, die sie kennt. Die Auswirkungen von Deiner Einschätzung, die musst Du alleine aushalten, unabhängig davon, was wir Dir raten würden. Deswegen wäre es richtig unfair von uns, wenn wir einfach sagen würden: ”Probier es doch. Mehr als schief kann es nicht gehen.” Oder wenn wir Dir raten würden, es nicht zu versuchen, und vielleicht hättest Du eine Chance.
Aber eines können wir Dir schon sagen: wenn Du Dich dazu entscheiden würdest, es zu probieren, solltest Du unter keinen Umständen mit einem Geständnis beginnen, was man nie mehr zurücknehmen kann. Sich als Lesbe (oder Schwuler) zu offenbaren, das ist eindeutig und kann nicht mehr zurückgenommen werden. Man kommt dann in eine Schublade herein, die um so enger ist, je mehr Vorurteile die Leute haben. Und ein rechte Gruppe hat sehr viele Vorurteile. Eine solche Gruppe braucht diese Vorurteile, sie existiert eigentlich nur auf dem Boden von menschenverachtenden Vorurteilen. Das ist ihr Bindeglied. Du siehst ja, wie es dem Kai ergeht.
Du müsstest Gelegenheiten entwickeln, wo Du ohne dieses Geständnis mit ihr zusammensein könntest. Deine Freizeitangebote an sie müssten interessanter sein, als ihr Umgang in der rechten Gruppe. Und von Deiner Art zu leben müsste sie lernen, wie unrecht die rechte Gruppe mit ihren Vorurteilen hast. Nur wenn es Dir gelingen würde, sie sozusagen abzuwerben, könnte sich für Dich vielleicht eine Chance ergeben. Aber auch das ist nicht sicher, denn vielleicht fände sie das Zusammensein mit Dir tatsächlich interessanter als mit dieser Gruppe, denn da Du sie liebst, würdest Du ja alles für sie tun. Und vielleicht würde es doch nicht dazu führen, dass sie sich in Dich verlieben würde. Du hättest Dich dann aus Liebe seelisch verausgabt, sie würde es einfach genießen, und es würde dennoch zu nichts führen. Das wäre sicherlich sehr sehr schmerzhaft für Dich. Wir wissen von vielen Freundschaften dieser Art, wo schwule Jungen oder Männer sich in heterosexuelle Männer oder Jungen verlieben, was den Heten (das sind Leute, die heterosexuell sind, also am anderen Geschlecht Interesse haben) so lange gefällt, so lange sie nicht wissen, was die schwulen Freunde dafür erhoffen. Wir wissen dies auch von lesbischen Freundschaften auf dieser Grundlage. Die Leidtragenden sind dann immer die Verliebten. Du siehst also, wir schildern Dir auch die Risiken, und Du hast tatsächlich alle Folgen zu tragen.
 
2. Die Ausländer sind kriminell?
Hier bitten wir Dich, mit uns zusammen einmal ganz genau darüber nachzudenken. Was ist eigentlich kriminell? Wenn man gegen ein Gesetz verstößt, natürlich, würdest Du sagen, und da hättest Du recht. Und sicherlich hätten die Karin und die rechte Gruppe recht, wenn die behaupten würden: die Dealer, die man an der Konstablerwache sieht, sind zum großen Teil Ausländer (auch wenn man nicht wissen kann, ob alle Menschen mit anderer Hautfarbe Ausländer sind). Aber das sagt sie ja nicht. Leute die Schwarzgeldkassen haben, Leute die andere Leute verfolgen oder zusammenschlagen, Leute die andere Leute diskriminieren und auf ihnen herumhacken, das alles sind Kriminelle, da die gegen die bestehenden Gesetze handeln, weil sie Straftaten begehen. Männer, die ihre Frauen prügeln, Männer die Frauen vergewaltigen, Frauen und Männer, die andere Leute um ihr Geld bringen, all das sind Straftäter, nicht zu vergessen solche Straftäter, die es wurden, weil sie im Straßenverkehr Gesetze übertreten haben. Du wirst zugeben müssen, dass die Aussage, 90% der Straftäter sind Ausländer, einfach nicht stimmen kann. Auch die abgewandelte Aussage, 90% der Ausländer sind Kriminelle, stimmt nicht. Wie viel Dealer siehst Du an der Wache tagtäglich? Sind es vielleicht 10 Leute? Und wenn man nicht immer alle sieht, die sich dort illegal Geld verdienen, vielleicht sind es 50? Und wieviel Ausländer leben in Deutschland? Und wie viele Menschen, die keinen deutschen Pass besitzen, leben in Frankfurt? Man sagt, es wären 30% der Bevölkerung. Es kann also tatsächlich nicht stimmen, dass man an der Konstablerwache sehen kann, dass 90% der Ausländer kriminell sind. Du wirst sehen, wenn Du das den Leuten der rechten Gruppe entgegenhalten würdest, dann würden sie Dich entweder überschreien oder das Thema wechseln oder Dich angreifen. Sie wollen gar nicht überprüfen, was richtig ist, sondern einfach recht behalten. Denn ihre Argumente stimmen nicht, das ahnen sie vielleicht sogar, sie sind nicht logisch, aber darauf kommt es ihnen einfach nicht an.
Du siehst, in dieser Frage müssen wir dem Kai recht geben, wobei wir hier nicht beurteilen können, ob er sich in seiner Lage in dieser Klasse sehr geschickt verhält. Aber es ist natürlich auch sehr schwer, sich geschickt zu verhalten, wenn man von Leuten einer rechten Gruppe angegriffen wird, weil man schwul ist.
Ausländer können genauso klug, blöd, ehrlich und kriminell sein wie Leute mit einem deutschen Pass. Es gibt auch ausländische Nazis oder antihomosexuelle Idioten, was man an dem Aram sehen kann. Warum sollen die Ausländer so viel anders sein wie die Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit? Du kannst nicht verstehen, dass Kai dem Aram zuhält, wenn er angegriffen wird? Vielleicht versucht der Kai ja dasselbe wie Du mit der Karin, wenn er dem Aram die Stange hält.
 
3. Solidarität mit dem Kai?
Das ist gar keine so schwierige Frage, wenn Du uns bei der Antwort 2 zustimmen kannst. Wenn nicht, wird es schwieriger. Wie dem auch sei, man kann und soll nicht mit jemanden solidarisch sein, weil er der annähernd gleichen Gruppe angehört, sondern wenn man sich auch hinter ihn stellen kann, weil man mit dem, was er tut, einverstanden ist.
Das ist ja eine der Irrtümer von Jugendlichen, zum Beispiel wenn sie eine beste Freundin haben usw. „Wenn Du mich liebts, dann ...“, da ist keine Liebe, sondern Erpressung. Mit was Du solidarisch sein willst, das bestimmst immer noch Du. Selbst wenn eine Gruppe, zu der Du gehörst, etwas macht, womit Du nicht einverstanden bist, selbst dann brauchst Du damit nicht solidarisch zu sein. Für das, was Du tust, bist alleine Du verantwortlich. Da kannst Du Dich nicht auf eine Solidarität oder Verliebtheit rausreden. Entweder Du stimmst dem Kai zu, oder eben nicht. Das ist keine Feigheit oder Verrat, sondern Dein Recht auf Selbstbestimmung. Zum Beispiel brauchst Du nicht, obwohl Du eine Deutsche bist, auf Deutschland stolz zu sein. Abgesehen, dass man ohnehin nicht auf etwas stolz sein kann, was man selbst gar nicht geleistet hat, kann man die Leute auch nicht entlasten, die einfach für uns sprechen, obwohl wir das nicht wollen. Auf das, was die machen oder sagen, wollen wir nicht stolz sein müssen. Mitgefangen - mitgehangen, darauf lassen wir uns besser nicht ein.
Du weißt sicher, dass die CDU-FDP-Regierung der Nachkriegszeit alle schwulen Männer einsperren ließ, die irgendwie Sex miteinander hatten. Das haben die von den Nazis übernommen und fanden es richtig. So stand es dann immer noch im deutschen Srafgesetzbuch und so wurde es gemacht. Kann man da auf Deutschland stolz sein?
Und so ist das auch mit der Solidarität. Wenn einer meiner Meinung nach Unsinn erzählt, dann kann ich nicht damit solidarisch sein, wohl aber mit ihm, wenn er blöd angegriffen wird. Mit dem Kai brauchst Du also nicht in allen Fragen solidarisch zu sein. Aber ihm gegenüber könntest Du Dich vielleicht schon offenbaren. Er ist schließlich schwul, und da kann man ja vielleicht in dieser Frage zusammenhalten und sich unterstützen, auch wenn man Vieles anders sieht und das auch sagt. Und Du brauchst auch gar nicht anzunehmen, dass der Kai sich auf Deine Seite stellt, in den Fragen, wo Ihr unterschiedliche Meinungen habt. Warum auch?
Lesben und Schwule können sich schon einander unterstützen, wenn irgendjemand uns wegen unserer Homosexualität angreift. Kai und Du, ihr habt es mit den gleichen Leuten zu tun und Ihr könnt Euch eine Stategie ausdenken und Euch untereinander absprechen. Das mach Euch sicher das Leben einfacher.
 
4. Die Linken haben die Familie kaputtgemacht
Wie die Familie, die wir heute kennen, entstanden ist, welche VorgängerInnen sie hatte und warum sich Wandlungen im Zusammenleben der Menschen ergeben haben, das kann man heutzutage studieren, denn das ist weitgehend alles erforscht.
Die Familie ist in ihrer Form und in ihrer Bedeutung genauso eine Zeitgeisterscheinung der Gesellschaft wie auch die Lesben- und Schwulenunterdrückung zugunsten der Familie. Du schreibts, dass Du Deinen Eltern nichts davon erzählen kannst, dass Du lesbisch empfindest. Sie seien zu streng. Findest Du das gut? Wäre es nicht besser, wenn man offen zueinander ist? Dann könnte man auch voneinader lernen. Und dann schreibst Du, dass die Kriminalität von Familien kommen würde, die nicht streng sind.
In der Geschichte der Lesben und Schwulen wurde immer eine ganz bestimmte Familienform, die als Kern die lebenslange Ehe zwischen Mann oder Frau hat, zum Maßstab gemacht, aus der Lesben und Schwule ausgeschlossen waren. Immer wenn dies besonders streng angewendet wurde, war es für alle die schwierig, die nicht in einer solchen Form lebten. Die Verurteilungen von Lesben und Schwulen wurden immer mit dem Schutz der Familie begründet. Wenn die Menschen mehr selbst bestimmen konnten, wie sie zusammenleben wollten, dann ging es uns immer etwas besser. Wenn sich Menschen scheiden lassen, dann scheinen sie sich nicht mehr genügend zu vesrstehen. Dann ist es doch gut, wenn sie auseinandergehen und nun andere Leute kennenlernen. Das wollen wir doch auch. Wie aber durch etwas mehr Ehrlichkeit und Freiheit im Zusammenleben Kriminalität entstehen soll, das müsstest Du uns einmal erklären. Unseren Informationen nach ist die strenge abgeschottete Familie kein schöner Ort. Viele kriminelle Handlungen finden hier statt, vom sexuellen Missbrauch über Gewalt zu Vergewaltigungen.
Liebe Gitta, wir hoffen, dass wir Dir mit unseren Abnmerkungen einigwe Tipps geben konnten. Aber was Du tust, das entscheidest Du alleine.
Deine LesbGayGirl und OldGayMan