71. Ausgabe, Sommer-LUST, Juni/Juli/August 02

Hallo gay Guys n Girls,
die CSD-Paraden werden zum Teil in den Medien gezeigt. Die Kameramänner und Kamerafrauen zeigen wunderschön gewachsene bzw. trainierte Menschen, während früher eher Tunten über den Bildschirm hüpften, denn damals erschien ihnen dies bemerkenswert. Jeder, der zum Teil unsrer Szene wird, schein strahlend schön zu sein, was man heute so schön nennt: kurze Haare, keine Körperhaare, Gel im Haar, damit es glänzt, schlank und bei Frauen eher durchtrainiert, der Bauchnaben mit einem Ring verziert. Bei Männern sind die Bauchmuskeln zu sehen, die deutlich hervortreten. Natürlich lassen die Jeans bei ihnen so richtig was ahnen.

Jung und gesund?
Und so stehen wir zu Hause vor dem Spiegel und sehen uns an, was der Spiegel uns so zeigt. Und da sieht es dann irgendwie gar nicht so aus, als gehörten wir nicht zu dieser Szene. Müssen wir uns nun Fett absaugen lassen oder die Nase korrigieren? Müssen wir nun täglich 2 Stunden im Studio verbringen und uns unter Solarien legen? Was wird noch alles von uns erwartet, damit wir nicht mehr so aussehen wie wir, sondern wie die Bilder, die wir so gerne betrachten. Dann werden auch wir betrachtet, so hoffen wir zumindest und bekommen die oder den zum Partner, die oder den wir begehren.

Der Körperkult der Szene
Es ist ganz klar, wir haben einen Körperkult in unsrer Szene, der den allgemeinen Körperkult in der Gesellschaft noch um vieles übertrifft. Und wir haben Leitbilder in unsrer Szene, die mit der Realität eines normalen Menschen, der irgendwo z.B. in der Arbeitswelt seinen Platz hat, nicht gemein hat. Wir selbst können diesen Bildern nicht standhalten, wir sehnen uns aber nach PartnerInnen, die diesen Bildern entsprechen. Wenn man arbeitet, muss man Bewegungen machen, hat man Körper- und Sitzhaltungen, die uns anders prägen, als es den Models entspricht, die das Training für ihren Körper als Berufsvorbereitung sehen müssen.

Die normale Arbeitswelt produziert eben nicht nur Models. Und jahrelang zwischen engen Terminen schnell ne Wurst und ein paar Fritten reinschieben, das hat genauso eine Wirkung wie immer mal ne Cola oder andere zucker- und stärkehaltige Getränke. Vieles von dem, was uns das Leben als einfache schnelle Möglichkeit anbietet, hat nichts damit zu tun, wie wir uns verhalten müssten, um solchen Idealen zu entsprechen. Und dann der individuelle Körperbau. Es ist eben so, dass einige Menschen etwas kürzere Beine haben, etwas breiter gebaut sind, andere sind dafür recht groß geraten, wirken in ihren Bewegungen schon eher grotesk, das ist die Vielfalt des Menschen. Und die alle sollen keine Chancen haben, jemanden abzukriegen? Das kann doch nicht sein. In Wirklichkeit wird der Mensch hier eingegrenzt. Es ist dies so, als würde man eine Schablone auf die Menschen legen und wenn irgendetwas nicht genau der Schablone entspricht, dann ist das Schlecht und scheidet aus. Je mehr Körperkult um so mehr Ausgrenzung.

Körper- und Verhaltensnormen
In der Arbeitswelt und in der Gesellschaft gibt es wohl ein solches schablonenartige Raster über die Menschen. Und in der Freizeitszene um so mehr, denn wer diesem Raster nicht entspricht, der muss viel Geld ausgeben, um dies entweder zu tarnen oder um dem Standart nahe zu kommen. Geld, das für Mode, Solarien, Fittnesszenter oder anderen Einrichtungen ausgegeben wird, dient im Grunde dazu, die eigene Anpassung zu finanzieren, damit man “ankommt”. Den entsprechenden Einrichtungen gefällt das natürlich, und auch wir sind ja dann stolz, wenn wir durch großen finanziellen und persönlichen Einsatz ein bisschen weitergekommen sind, denn das ist mühsam erworben. Und was wir können, sollen die anderen gefälligst auch müssen.

Solche Normen gibt es aber nicht nur in den Äußerlichkeiten eines Menschen, sonders auch in dessen Verhaltensweisen. Ganz bestimmte Verhaltensweisen sind bei ganz bestimmten Lebenssituationen erforderlich, um erfolgreich zu sein. Und wer nun solche Verhaltensweisen nicht bringen will oder kann, der ist verhaltensauffällig. Das schlägt wieder aus der Art, bringt gewohnte Abläufe durcheinender, ist störend. Also werden solche Verhaltensweisen kritisiert und sanktioniert. Vorbei scheint vorerst einmal zu sein, dass die Homosexualität als Geisteskrankheit angesehen wird, die auf unterschiedliche Weise zu therapieren oder zu bestrafen ist. Wir meinen, dass es uns gut anstehen würde, wenn wir ungewohnte Verhaltensweisen und nicht-normgerechte Körperlichkeit als schlichte individuelle Besonderheiten ansehen und sonst weiter nichts. Die Menschen haben eben das Recht, unterschiedlich zu sein. Was dabei natürlich nicht klappt, ist die Frage der Zuneigung. Nur selten werden wir wegen des Aus-der-Rolle-Fallens durch Zuneigung belohnt. Zuneigung ist meistens die Belohnung für Normgerechtes und Angepasstes. Es gibt natürlich körperliche Abweichungen von der Norm, die eine Krankheit oder Behinderung darstellen, also wenn jemand durch einen Unfall ein Körperglied verliert oder wenn Körperteile ihre Funktion nicht mehr ausreichend erfüllen können. Oder wenn jemand zeitweilig oder überhaupt ohne es zu wollen die Fähigkeit verliert, zwischen seinen Ängsten und Befürchtungen und der Realität zu unterscheiden, oder wenn seine Ängste immer mehr zunehmen. Dies behindert und peinigt die betroffenen Menschen und ihre Mitmenschen und hier ist natürlich schnellstens professionelle Hilfe nötig.

Umgang mit Krankheit und Behinderungen
Heute haben wir also auch ein etwas ernsteres Thema zu besprechen, nämlich das Thema Krankheit und Behinderung. Eine Krankheit ist ein Zustand, der durch äußere oder inner Vorgänge oder Auslöser verursacht ist und der durch die Selbstheilung oder eben durch medizinische Hilfe behandelt werden muss. Es gibt Krankheiten des Körper und des Geistes, die geheilt werden können, andere werden chronisch und die betreffenden Menschen müssen ein Leben lang mit ihnen kämpfen, andere sind nicht zu bekämpfen und führen irgendwann zu einem Zustand, bei dem der Mensch sich und seine Funktionen immer weniger kontrollieren kann bis hin zum Tode. In manchen Fällen lassen sich Krankheit und Behinderung kaum trennen, nämlich wenn der betreffende Mensch nur unter laufenden medizinischen oder Medikamenteneinsatz überhaupt noch einigermaßen selbstbestimmt existieren kann. Das kann bei körperlichen Erkrankungen auftreten wie zum Beispiel bei Aids wie auch bei psychischen oder geistigen Erkrankungen bis hin zu Alzheimer, was ja letztlich auch körperlich verursacht ist.

Eine Behinderung
Eine Behinderung dagegen ist keine brisante Krankheit, man hat nur auf irgendeinem Gebiet nicht die gleichen Fähigkeiten wie es “normalerweise” üblich ist. Behinderungen können von Geburt an vorhanden sein, oder sie treten als Folge eines Unfalles oder einer Krankheit auf. Ziel unseres Umganges mit behinderten Lesben und Schwulen muss sein, dass sie auch eine Chance in unserer Szene bekommen müssen, dass sie nicht diskriminiert, ausgeschlossen sondern aufgenommen werden müssen.

Wir möchten Dir keine Angst machen, sondern Dich ermutigen, Behinderte nicht noch weiter auszugrenzen als es die Gesellschaft beim Umgang mit Behinderung und die Behinderung auch selbst es schon im Alltagsleben tut. Und wenn Du selbst behindert bist, möchten wir Dich ermutigen, Deine Isolation zu überwinden und Freundinnen oder Freunde zu suchen. Wir kennen eine ganze Reihe behinderter Lesben und Schwule, die nicht alleine leben, sondern in Beziehungen und Freundschaften lesbisches und schwules Lebensglück erleben können. Manche mussten freilich lange suchen und unterschiedliche Wege beschreiten, um gerade in ihrem Fall Menschen zu finden, die im anderen den Mitmensch sehen.

Das Wort Behinderung sagt aus, dass dieser jeweilige Mensch einige Fähigkeiten, die von uns erwartet werden, nicht haben. Das heißt aber nicht, dass man mit anderen Fähigkeiten nicht dennoch angemessen mit der Umwelt gesellschaftlich verkehren kann. Dies ist nun nicht pauschal zu beschreiben, denn die unterschiedlichen Behinderungen setzen uns eben auch unterschiedliche Grenzen. Wir habe deshalb auch schon statt “Behinderte” das Wort “Andersfähige” gelesen. Aber auch hier haben wir sprachlich das Problem, dass Gedanklich von einem Normalzustand ausgegangen wird. Nehmen wir zum Beispiel den Beruf. Nicht für jeden Beruf benötigt man alle menschlichen Möglichkeiten. Und im zwischenmenschlichen Bereich ist die Behinderung oftmals nur ungewöhnlich aber nicht unbedingt eine Belastung. Es kommt halt auf die Art der Behinderung an, was man zu bedenken hat.

Wenn Du selbst behindert bist, wird der nachfolgende Textabschnitt aus Deiner Sicht sicherlich nicht ausreichend über die Eigenarten und Besonderheiten Deines Lebens unterrichten. Wenn Du selbst nicht behindert bist, soll der nachfolgende Text Dich einladen, ein bisschen in die Welt verschiedener Behinderter hineinzudenken. Es gibt körperliche wie auch psychische oder geistige Behinderungen, wobei die Grenzen oft fließend sind. Oft weiß man gar nicht, wie viel von unseren selbstverständlichen Verrichtungen von einem einzigen Organ abhängig sind, das krank sein kann oder in seiner normalen Funktion eingeschränkt ist.

Körperliche Behinderungen gibt es auf ganz unterschiedliche Weise. Man kann zum Beispiel hörbehindert sein, vielleicht auch taub. Das bedeutet nicht nur, dass man die Geräusche der Außenwelt nicht hören kann, sondern oft auch die eigenen Laute und Geräusche nicht hören kann. Hörbehinderte kommunizieren miteinander in der Gebärdensprache. Und wenn Du Dich in eine(n) Hörbehinderte(n) verliebst und ihn/sie zum/zur Partner(in) hast, dann müsstest Du die Gebärdensprache eben auch erlernen, wie man eine Fremdsprache erlernen muss. Denke mal, dass zum Beispiel das normale Telefon nicht benutzen kann, wohl aber Texte versenden und lesen kann.

Sprechbehinderte verstehen und hören alles, können selbst aber nicht alles verständlich formulieren oder artikulieren. Da gehört es sich, dass man dem Partner und der Partnerin Gelegenheit gibt, sich verständliche zu machen, mal über die Sprache selbst, und da muss man lernen, herauszuhören, was gesagt wird, mal über andere Kommunikationsmittel. Hier wie bei anderen Behinderung ist es so, dass die besondere Form der Behinderung Grenzen setzt und bestimmt, wie weit man als PartnerIn sein Verhalten eben der Situation anpassen kann, damit man sich gegenseitig gut verstehen kann.

Die Sehbehinderung verlangt auch ein besonderes Aufeinander zugehen. Zeitungen, Zeitschriften, der Bildschirm, alles das kann man nicht sehen. Natürlich gibt es Computer, die Texte vorlesen können. Aber auch die PartnerInnen können das.. Unsere Sprache ist für alle behinderte voller Fallen. “Sieh mal,” sagt man oft und dann erst fällt einem ein, dass der Partner mit den Augen nicht sehen kann. Und so sagen Dir bisweilen sehbehinderte Menschen, dass sie eben mit den Ohren, mit ihrem Tastsinn usw. “sehen” können.

Bewegungsbehinderte können unterschiedliche Verrichtungen nicht alleine verrichten, sind teilweise auf Hilfe angewiesen. Da können zum Beispiel Schlüssel oder Türklinken zur Barriere werden. Nun ist es ja nicht so, dass man deshalb etwas nicht kann, weil man etwas mehr Zeit als andere dafür benötigt.

Gehbehinderte haben in unseren Städten, Häusern und Wohnungen oftmals unüberwindliche Hindernisse, die sie nur mit fremder Hilfe überwinden können. Aber es ist doch auch möglich, ebenerdig zu wohnen, bei Behörden usw. Rampen anzubringen oder vielleicht Fahrstühle, damit Gehbehinderte sich ohne fremde Hilfe überall hin bewegen können. Bei allen Behinderungsarten geht es um größt mögliche Selbstständigkeit. Leider sind die Einrichtungen unserer Szene recht selten für gehbehinderte zu erreichen.

Geistige Behinderungen
Geistige Behinderungen können körperliche Ursachen haben, und Menschen mit diesen Behinderungen möchten auch nicht alleine leben, möchten lieber von lieben Menschen umgeben sein, die zu ihnen halten. Auch hier kommt man nicht ohne professionelle Hilfe aus. Viele Krankheiten des Gemütes und des Geistes lassen sich mit Medikamenten so weit eindämmen, dass sie sich im Alltagsleben gar nicht weiter auswirken. Psychische Behinderungen sind nichts für Laienhaftes Rumdoktorn. Auch hier gibt es Spezialisten, die den Umgang mit solchen Behinderungen gelernt haben und nicht nur den Behinderten helfen können, sondern den Angehörigen wertvolle Tipps geben können.

Geistige Behinderungen werden in Filmen oftmals horrormäßig dargestellt, und auch die dafür zuständigen Krankenhäuser, die psychiatrischen Kliniken, werden wie Gefängnisse, gelenkt von sadistischen Psychiatern in den entsprechenden Thrillern vorgestellt, damit die Handlung spannend ist. Aber das hilft den Menschen gar nicht, die dort zeitweilig Hilfe benötigen.

Menschen sind nicht wie Modepuppen und Models, sie sind nicht wie die Helden in den Meiden, die derzeit in Serien fragwürdige Leitbilder abgeben. Das Leben zwischen den Menschen ist nicht so, wie es in den meisten Soups gesehen werden kann, wie es sich in den Talk-Shows abspielt. Jeder Mensch ist ein Einzelwesen, ein Unikat, hat eine Vergangenheit und auch eine Zukunft. Jeder Mensch wird älter. Jeder Mensch kann erkranken und kann ein Behinderter werden. Nicht die Behinderten sind die Ausnahme, sondern es wäre eine Ausnahme, wenn ein Mensch in allen seinen Eigenschaften “makellos”, gemessen an einer vorgegebenen Norm, wäre. Behinderungen sind da schlicht menschliche Besonderheiten.

Natürlich dürfen wir nicht die Illusion entstehen lassen, dass alle Behinderungen mit einem Achselzucken übergangen werden können. Sie verlangen schon spezielle Zuwendungen. Aber auch nichtbehinderte Menschen benötigen spezielle Zuwendungen. Daher ist es nicht gut, Menschen mit Behinderungen alleine zu lassen. Aber das haben wir ja schon geschrieben.

Es grüßt Euch, dieses Mal eben mal etwas ernster,
Euer LesbGayGirl und Euer OldGayMan