72. LUST, Herbst 02, September/Oktober/November
 
Coming-out
ist eine entscheidende Situation im Leben eines Menschen, nämlich das zu akzeptieren, was man schon vorher geahnt oder befürchtet hatte: „Ich bin homosexuell“.
Und nun muss man lernen, wie das ist, lesbisch oder schwul zu sein.
Hallo Gay Guys `n Girls,
Diese Coming-out Seiten sind für Lesben und Schwule im Coming-out gedacht, und zwar jeden Alters.
 
Natürlich stimmt es, dass das Coming-out heutzutage meistens schon im jungen Alter stattfindet, weil doch vergleichsweise mehr Lesben und Schwule heutzutage schon als Jugendliche den Mut haben können, den nächsten Schritt zu machen. Das ist aber nicht in allen Familien und Regionen so, und deshalb gibt es doch immer noch Lesben und Schwule, die längere Zeit zu ihrem Coming-out benötigen.
 
Da die jugendlichen Lesben und Schwulen im Coming-out aber tatsächlich die überwiegende Mehrheit darstellen, richten wir uns heute ganz besonders mit einem Appell gerade an sie.
Also Ihr, also Du, wir wenden uns mit diesem Appell gerade an Euch beziehungsweise an Dich, junge Lesbe, junger schwuler Mann.
 
Du hast es also geschafft, für Dich zu akzeptieren, dass Du lesbisch bist, schwul bist. Und du verabscheust nun nicht mehr, was sich auch sexuell so zwischen Frauen beziehungsweise Männer abspielt, sondern du findest, dass es gut so ist und nicht irgendwie schlecht oder minderwertig, dass du es nun auch erleben kannst.
 
Gratulation! Willkommen in unsren Reihen! Lass uns Deine neue Geburt feiern, Deine Geburt als lesbische Frau und als schwuler Mann.

Deine Auffassung über das, was und wie eine Frau zu sein hat, wird sich nun schrittweise ändern; auch Deine Auffassung darüber, was und wie ein Mann zu sein hat. Und Du lernst immer mehr zu verstehen, dass zu Dir als Frau ein ergänzender Mann gar nicht nötig ist, und für Dich als Mann eine ergänzende Frau auch nicht. Es stellt sich nach einigen Versuchen dann für Dich heraus, dass auch die Art der Freundschaften und Beziehungen nicht so organisiert sein muss, wie heterosexuelle Paare ihre Beziehungen im Innneren gestalten.
 
Am Anfang fällt es Dir noch schwer, dich von diesen Vorstellungen und engen Freundschaften mit heterosexuellen Menschen zu lösen, aber mehr und mehr wirst du sehen, dass sie Deinen weiteren Weg mit ihren Normen und Werten, die in ihrem Leben sicherlich eine Berechtigung haben, eigentlich nur noch behindern.
 
Und nun geht es auch darum, über die Dir schon immer bekannten Leute neue Menschen kennen zu lernen, die Dir mehr geben können, verständiger gegenüber Deiner neuen Lage sind, weil sie ja selbst auch lesbisch oder schwul sind.
 
Vieles was Deine bisherigen FreunInnen in freundlicher Absicht sagen, ist zwar gut gemeint, aber eben doch nicht immer hilfreich, denn sie leben zwar im gleichen Land und in der gleichen Stadt aber doch in einer anderen Welt als Du, halten andere Dinge für selbstverständlich und richtig als Du. Im Gegensatz stellt sich dann für Dich immer mehr heraus, dass die alten FreundInnen sich sogar eifersüchtig in Deine lesbischen oder schwulen Beziehungen einzumischen versuchen, und ihre Vorschläge gehen an Deinen Bedürfnissen vorbei, belasten zumindest Dein neues Leben. Vielleicht dauert es eine ganze Weile, bis Dir das auffällt, aber die Situation wird kommen, wo Dir das klar wird. Es gibt heterosexuelle Männer und Frauen, die sich eine Zeitlang derart an uns binden oder bei uns einmischcen, dass wir schon beinahe glauben, sie wären auch im Coming-out. Aber es gibt dann Schlüsselerlebnisse, die dir klar machen, dass ihre Welt nicht Deine Welt ist und dass ihr Urteil bei der sinnvollen und zufriedenstellenden Gestaltung Deines Lebens nicht hilfreich ist.
Wenn Du nun in der Szene in die mehr oder weniger altersgleichen Cliquen kommst, dann wirst Du dort Leuten begegnen, die Dir Ratschläge geben usw., die Dir aus der Szene Deiner bisherigen FreundInnen schon bekannt sind. Und je engagierter diese Ratschläge vorgetragen werden, um so weniger könne auch sie Dir wirlich helfen. Diese altersgleichen FreundInnen, denen du da begegnest, sind auch gerade im Coming-out und haben im Grunde gar nicht so viel mehr Erfahrung wie Du, sie behaupten es aber.
 
Warum ist das so? Nun eben weil sie die gleichen Probleme haben wie Du, weil sie sich auch nicht so leicht von den FreundInnen und Meinungen ihrer unlesbischen oder unschwulen Zeit lösen können. Und aufgrund ihrer Zweifel suchen sie sich jüngere, die sie in den Zweifeln bestärken und nicht mit dem Anspruch und den Selbstverständlichkeiten der Älteren kommen, die für sich einen guten Weg gefunden haben, ihr Leben zu leben. Das ist nämlich gar nicht so einfach und mit ein paar Ratschlägen auch nicht zu lösen. Und der Anspruch oder sie Selbstverständlichkeiten Älterer gehen ihnen zu weit, da sie selbst immer noch in den Normen und Denkmustern der heterosexuellen Welt gefangen sind. Sie brauchen also andere Gleichaltrige, um sich im Sitzen zwischen den Stühlen zu bestätigen. Vieles, von dem, was sie sagen hat etwas mit den altersgleichen heterosexuellen Jugendcliquen zu tun. das macht Spaß aber ist nicht hilfreich, die nächsten Schritte zu tun.
 
So und nun kommen wir also zum Kern des Themas, über das wir mit Dir heute sprechen wollen: die Clique gleichaltriger Lesben und Schwuler reicht nicht aus, sich in lesbische und schwule Lebensart einzuleben.
 
So wie es für heterosexuelle Jugendliche nicht ausreichend ist, nur unter Gleichaltrigen zu sein, so ist das bei Lesben und Schwulen auch so. Heten haben nämlich überall auch ältere Bezugspersonen aus ihrem heterosexuellen Umfeld. Die helfen in vielen Gesprächen und durch ihr eigenes Beispiel, das heterosexuelle Leben zu leben. Und da gibt es unzählige Bereiche, vom Ausfüllen von Formularen bist zum Besprechen von Beziehungsfragen, für die Menschen mit längerer Lebenserfahrung einfach wichtig sind. Und zwar lebenserfahrene Menschen aus dem gleichen Lebenserfahrungsbereich. Und du kannst nun nicht die homosexuellen Gleichaltrigen nehmen und die heterosexuellen Altersunleichen, denn die leben nach Wertvorstellungen und machen Vorschläge, die ihrem eigenen Leben entsprechen.
Es gibt Bereiche, bei denen Ältere den Jugendlichen so richtig auf den Sack gehen, nämlich immer dann, wenn sie sich ungefragt einmischen und uns mit ihren Ansichten traktieren wollen, die wir nicht hören wollen. Besonders dann ist dies der Fall, wenn wir unsere eigene Emanzipation erarbeiten wollen. Aber das heißt ja nicht, dass wir ohne Menschen unterschiedlichen Alters besonders gut auskommen können. Wir brauchen über die altersgleichen Cliquen hinaus ein altersungleiches Umfeld, um unser Leben besser gestalten zu können. Das nutzt den Älteren und den Jüngeren gleichermaßen. Es ist unsinnig und auch völlig unnatürlich, wenn die Menschen auf Dauer entsprechend ihrem Alter voneinander getrennt leben, als seien sie unterschiedliche Völker.
 
Klar, da gibt es so manche Vorbehalte. Man hört da so Manches und man fürchtet sich auch vor AnmacherInnen, die gar nicht an unserer Person interessiert sind, sondern die Sex mit Jugendlichen erleben wollen. Sicher, das gibt es und wenn wir von ihnen nicht angemacht werden wollen, können diese Leute auch sehr lästig sein. Darüber hinaus, auch wenn es uns gar nicht lästig ist sondern willkommen, dann kannst Du sowohl in Deinem altergleichen lesbisch-schwulen Umfeld wie auch in Deinem heterosexuellen Umfeld auf wenig Verständnis rechnen. Aber über solche Beziehungen schreiben wir hier gar nicht. Wir schreiben hier über ein Umfeld, über eine Szene und nicht über sexuelle Zweierbeziehungen.
 
Menschen unterschiedlichen Alters brauchen sich gegenseitig genauso wie Menschen gleichen Alters. Und er müssen Menschen unterschiedlichen Alter und gleichen Alters unserer Szene sein. Nur eines davon zu haben, wäre eine Verarmung und ein Unglück, obwohl man es noch nicht weiß.
 
Es werden in unserem täglichen Leben unter all den Heten und auch unter uns eine Unzahl von Entscheidungen von uns erwartet, bei denen wir Lehrgeld bezahlen müssen, weil wir uns mal wieder ziemlich blöde angestellt haben, oder bei denen wir auf schon Erarbeitetes und Erfahrenes aufbauen können. Warum sollten wir die Vorteile der generationsübergreifenden Erfahrungsweitergabe alleine den Heten überlassen und immer wieder das Rad neu erfinden? Nach einigen Eprobungsjahren, in denen wir uns von unseren Eltern wegemanzipieren, bemerken wir, dass uns das eine und andere fehlt. Aber auch unsere Eltern können uns da nicht helfen, weil sie einen großen Teil unseres Lebens überhaupt nicht verstehen und den anderen Teil in ihrem Sinne interpretieren.
 
Also, Ihr lieben, es hilft nichts, das beste ist, wenn man eine Clique trifft, die an einem Thema und nicht am Alter orientiert ist.
Es grüßen Euch
Eure OldGayMan und LesbGayGirl