73. LUST, Winter 02/03

Coming-out
ist eine entscheidende Situation im Leben eines Menschen, nämlich das zu akzeptieren, was man schon vorher geahnt oder befürchtet hatte: „Ich bin homosexuell“.
Und nun muss man lernen, wie das ist, lesbisch oder schwul zu sein.
Hallo Gay Guys `n Girls,
dieses Mal wenden wir uns gar nicht an Euch, sondern an die Coming-out-HelferInnen, die, wie wir wissen, diese Seiten regelmäßig lesen, teils um sich Informationen und Anregungen zu holen, teils um sich zu ärgern.
Wir haben nämlich ein sehr sehr wichtiges Buch vom Verlag Klett & Kotta zugesandt bekommen, das sich an BeraterInnen und besonders TherapeutInnen von Lesben und Schwulen wendet. Und um Euch (den BeraterInnen undTherapeutInnen) von der Wichtigkeit des Buches zu überzeugen, haben wir, das Eiverständnis des Autoren und des Verlages vorausgesetzt, einen Textauszug hier veröffentlicht, der das Coming-out betrifft. Wie Ihr seht ist dies ein wissenschaftliches Buch, das aber dennoch verständlich geschrieben wurde. Eigentlich hatten wir vor, nur einen kleinen Textauszug zu veröffentlichen, aber wir konnten uns nicht entschließen, irgendwo ezwas rauszuschmeißen, da eins zum anderen gehört. Mit dem Lesen dieses Auszuges ist es freilich nicht getan, das ganze Buch ist wichtig und Ihr solltet es Euch unbedingt besorgen!
Hallo Gay Guys `n Girls, wenn Ihr neugierig auch diesen Textauszug lest, dann ist das nur wünschenswert, denn er hilft Euch sicherlich. Also:

2. Coming-out, ein lebenslanger Prozess (Udo Rauchfleisch)
Der Entwicklungsprozess des Coming-out umfasst auf der einen Seite einen innerpsychischen Vorgang, nämlich das Gewahrwerden und die schließliche Gewissheit, lesbisch, schwul oder bisexuell und nicht heterosexuell zu sein, und auf der anderen Seite eine soziale Dimension, bei der es um den Weg geht, sich entsprechend der sexuellen Orientierung zunehmend auch in der Öffentlichkeit zu zeigen und einen eigenen Lebensstil zu finden. Die beiden Dimensionen lassen sich, obwohl verschieden, nicht voneinander trennen; sie hängen eng miteinander zusammen und bedingen einander. Einerseits ist die Gewissheit, lesbisch, schwul oder bisexuell zu sein, Voraussetzung dafür, auch in der Öffentlichkeit dementsprechend aufzutreten. Andererseits aber verfestigt sich die sexuelle Identität auch wiederum durch eine bewusst gestaltete Lebensform.
Dabei ist es wichtig, den prozesshaften Charakter dieser Entwicklung zu beachten und sich darüber klar zu sein, dass das Coming-out letztlich ein lebenslanger Prozeß ist, woraus Lesben, Schwulen und bisexuellen Menschen oft besondere Belastungen erwachsen; das ist in Beratungen und Psychotherapien zu beachten (Reynolds & Hanjorgiris 1999; s. auch Kap. 4, 5 und 6). Es lassen sich im Coming-out drei Phasen unterscheiden, die je spezifische Erfahrungen - und dabei unter Umständen auch die Möglichkeit von Störungen - in bezug auf die eigene Person und die Interaktion mit der näheren und weiteren Umgebung beinhalten: die Prä-Coming-out-Phase, das eigentliche Coming-out und die Integrationsphase.

2.1 Die Prä-Coming-out-Phase
Diese Phase umfasst die Zeit von der Geburt bis zu dem Moment, in dem ein Mädchen oder ein Knabe sein “Anders”-Sein bewusst wahrnimmt. Dieses Gefühl, “anders” als die anderen Kinder zu sein, beruht auf einer spezifischen Entwicklung der Geschlechtsidentität, die sich, abgesehen von gewissen hereditären Komponenten, aus drei „Bausteinen” zusammensetzt: der Kern-Geschlechtsidentität, der Geschlechtsrolle, und der Geschlechtspartner-Orientierung (vgl. Kap. 1.4). Diese drei „Bausteine” bilden im Verlauf der Entwicklung zusammen mit den erotischen und sexuellen Phantasien, den sozialen Präferenzen und nicht zuletzt mit der Selbstdefinition (s. Klein et al. 1985) die ganz individuelle, komplexe Struktur, die wir in vereinfachender Weise „sexuelle Orientierung” nennen.
Das Gefühl des „Anders”-Seins kann je nach dem Verhalten der Umgebung (in erster Linie natürlich der nächsten Bezugspersonen, der Eltern) unterschiedlich erlebt werden. Dementsprechend finden wir auch ganz verschiedenartige Ausgänge der Prä-Coming-out-Phase, was wiederum einen erheblichen Einfluß darauf ausübt, wie die folgenden Entwicklungsstadien durchlaufen werden.
Verständlicherweise können Eltern, die selbst gut mit ihren Bedürfnissen nach Abgrenzung und Zuwendung zu anderen Menschen umgehen und eine gewisse Offenheit für unkonventionelle geschlechtsspezifische Verhaltensweisen besitzen, viel unbefangener mit dem “Anders”-Sein ihrer Kinder umgehen und den Kindern dadurch viel mehr Raum lassen, sich selbst so zu erleben und auch sozial so zu definieren, wie sie sich tatsächlich fühlen (vgl. die Resultate der Studie von Waldner & Magruder 1999). Sind Eltern und andere wichtige Bezugspersonen hingegen an starre, traditionelle Geschlechtsrollen-Stereotype und rigide gesellschaftliche Normen gebunden, so entwickeln die Kinder und Jugendlichen leicht das Gefühl der Heimatlosigkeit und der Fremdheit (Wiesendanger 2001).
Die Schwierigkeit des Prä-Coming-out liegt vor allem darin, dass die Heranwachsenden ebenso wie die nähere Umgebung erkennen und akzeptieren müssen, dass nicht die wie selbstverständlich erwartete heterosexuelle Orientierung besteht, sondern dass eine lesbische, schwule oder bisexuelle Identität die Selbstwahrnehmung und die Gestaltung der sozialen Beziehungen bestimmt. Es geht in dieser Phase darum anzuerkennen, dass Verhaltens- und Erlebensweisen, die üblicherweise „typisch männlich” und „typisch weiblich” genannt werden, für diese Kinder keine oder eine nur begrenzte Gültigkeit besitzen. Die Tatsache, dass Knaben häufig nicht die weithin von ihnen erwartete Freude an körperlichen Auseinandersetzungen und sportlichen Wettkämpfen zeigen, sondern musische Interessen aufweisen, und Mädchen sich nicht dem versorgenden Rollenspiel z. B. mit Puppen hingeben, sondern die dynamische Interaktion mit der Außenwelt suchen, wird bei einer positiven Eltern-Kind-Beziehung nicht als „Fehlen” eines sozial wichtigen Merkmals oder gar als „Versagen” in der geschlechtsspezifischen Sozialisation empfunden (mit den entsprechenden Schuldgefühlen bei Eltern und Kind), sondern als ein gleichwertiges Anders-Sein.
Da unsere Gesellschaft sich stark an heterosexuellen Standards orientiert, ist ein solcher Entwicklungsprozess mehr oder weniger großen Belastungen ausgesetzt. Schon die - verständliche - Erwartung heterosexueller Eltern, ein heterosexuelles Kind vor sich zu haben, kann im Heranwachsenden schmerzliche Gefühle des Nicht-verstanden-Werdens und des Ausgeschlossen-Seins entstehen lassen. Hinzu kommen oft Enttäuschungen am gleichgeschlechtlichen Elternteil, der auf die homoerotischen Bedürfnisse des Kindes nicht angemessen eingeht und das Kind wegen seines nicht den traditionellen Geschlechtsrollen entsprechenden Verhaltens unter Umständen explizit zurückweist und entwertet (Gissrau 1993b; Isay 1990; vgl. auch Kap. 1.4).
Je stärker ausgeprägte homophobe (antihomosexuelle) Einstellungen bei den Eltern und im umgebenden Milieu bestehen, desto schwerer sind die Verletzungen, die Kinder und Jugendliche in der Entwicklungsphase des Prä-Coming-out erleiden. Besonders tragisch ist es, wenn solche homophoben Einstellungen der Umwelt schließlich von den Heranwachsenden übernommen werden und dann als internalisierte Homophohie aus ihnen selbst heraus eine unheilvolle negative Wirkung auf das Selbstwertgefühl und die Selbstakzeptanz entfalten (zum Phänomen der Homophobie s. Kap. 3).
Schwierigkeiten ergeben sich ferner dadurch, dass Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft kaum gleichgeschlechtliche Modelle finden, sondern in erster Linie mit heterosexuell empfindenden Menschen und deren Lebens- und Beziehungsformen konfrontiert sind. Diese Situation hat sich zwar im Verlauf der letzten Jahre geändert. Nach wie vor aber erleben viele gleichgeschlechtlich empfindende Kinder und Jugendliche im Hinblick auf die für ihre Sozialisation wichtigen Identifikationsfiguren einen empfindlichen Mangel. Allenfalls erfahren sie von lesbischen, schwulen und bisexuellen Prominenten, die sie aber nur aus der Ferne kennen und die deshalb als ihnen vorgelebte Modelle kaum in Frage kommen. Diese Probleme werden besonders relevant in den folgenden Coming-out-Phasen, in denen es um das Eingehen von Beziehungen und das Finden eines eigenen lesbischen, schwulen und bisexuellen Lebensstils geht.
Damit diese wie die nächsten Entwicklungsphasen von Eltern wie von Kindern konstruktiv bewältigt werden können, sind mitunter Beratungen durch Professionelle sinnvoll (s. Kap. 10.2). Daneben können aber auch Selbsthilfegruppen für Eltern lesbischer und schwuler Kinder äußerst hilfreich sein. In solchen Gruppen erleben die Eltern Solidarität, erhalten Informationen über homosexuelle Orientierungen und Lebensweisen und können ihren eigenen Coming-out-Prozess als Eltern eines homosexuellen Kindes durchlaufen. Denn, ähnlich wie ihre Kinder, stehen auch sie vor der Aufgabe, die homosexuelle Orientierung zu akzeptieren und mit dem sich „anders” entwickelnden Kind in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden (vgl. Kap. 10.2).

2.2 Das eigentliche Coming-out
Diese Phase zeichnet sich durch die Gewissheit aus, eine lesbische, schwule oder bisexuelle und damit keine heterosexuelle Orientierung zu besitzen und sich dementsprechend zu Partnerinnen und Partnern des eigenen Geschlechts hingezogen zu fühlen. Diese Erkenntnis stellt den ersten Schritt auf dem Weg in die Öffentlichkeit dar Auch wenn die eigene Orientierung inzwischen zur Gewissheit geworden ist, bestehen doch nach wie vor Gefühle von Ungewissheit, Zweifel und Unsicherheit. Zentrale Fragen, die lesbische, schwule und bisexuelle junge Menschen in dieser Zeit bewegen, sind vor allem die, wem sie sich zuerst eröffnen sollen und wie weit der Kreis der Menschen gezogen werden soll, die sie über ihre Orientierung informieren wollen.
Die Antwort auf diese Fragen hängt von verschiedenen Faktoren ab: In erster Linie wird sie durch die Erfahrungen der früheren Entwicklung bestimmt, insbesondere durch die Offenheit der Eltern auch für Verhaltensweisen, die von der sozialen Norm abweichen. Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei natürlich auch die Art der Eltern-Kind-Beziehung, vor allem der Grad des zwischen ihnen bestehenden Vertrauens. Das konkrete Verhalten angesichts der Frage, wem die jungen Menschen sich eröffnen, hängt zum anderen aber auch von ihrem aktuellen Umfeld ab. Sie befinden sich verständlicherweise in einer völlig anderen Situation, je nachdem ob ihr Bezugsfeld im beruflichen wie im privaten Bereich sich durch relativ große Toleranz auszeichnet oder ob sie sich vornehmlich in einem konservativen, stark auf sozialkonformes Verhalten ausgerichteten Milieu bewegen.
In letzterer Hinsicht spielen die Kirchen, zumindest in ihren offiziellen Verlautbarungen, oft eine unheilvolle, die positive Identitätsbildung gleichgeschlechtlich empfindender Menschen beeinträchtigende Rolle (Käufl 2000). Während die katholische Kirche durchweg eine die Homosexualität ablehnende, entwertende Haltung einnimmt, ist die Situation im protestantischen Bereich heterogener. Hier bestehen inzwischen an etlichen Orten beispielsweise Rituale für Segnungsfeiern gleichgeschlechtlicher Paare. Eindeutig homosexualitätsfeindlich sind hier jedoch evangelikale Gruppierungen, die ihre gleichgeschlechtlich empfindenden Mitglieder unter einen enormen Druck setzen und von ihnen die Änderung ihrer sexuellen Orientierung und Lebensweise fordern. In Anbetracht der in Kapitel 1.4 geschilderten Entwicklung der homosexuellen und bisexuellen Geschlechtidentität ist klar, dass eine Änderung der eigentlichen Orientierung mit den daran geknüpften erotischen und sexuellen Phantasien und Gefühlen nicht möglich ist, sondern lediglich Verhaltensänderungen bewirkt werden können. Diese werden allerdings mit zum Teil schweren Depressionen, massiven Selbstwertproblemen und tiefer Verzweiflung erkauft. Mitunter führt die unerträgliche Spannung, die aus der Wahrnehmung resultiert, ein Leben im Gegensatz zur eigentlichen Identität zu führen, bis in den Suizid.
Der erste wichtige Schritt in der Phase des eigentlichen Coming-out ist das Gespräch über die eigene gleichgeschlechtliche Orientierung mit einer den Jugendlichen nahestehenden Person ihres Vertrauens. Solche Personen sind häufig Kameradinnen oder Kameraden. Es können aber auch Verwandte, Lehrerinnen und Lehrer oder Jugendleiterinnen und Jugendleiter sein, oder es kommt direkt zum Gespräch mit den Eltern. In jedem Fall ist es wichtig, dass die Heranwachsenden auf einen Menschen treffen, der ihnen offen begegnet und sie vorbehaltlos akzeptiert. Gerade bei diesen ersten, zaghaften Schritten sind die Jugendlichen besonders verletzbar, und es kann die weitere positive Entwicklung erheblich blockieren, wenn sie bei einem solchen Gespräch Ablehnung und Entwertung erfahren.
Es wäre allerdings ein Irrtum anzunehmen, daß gleichgeschlechtlich empfindende Menschen sich nur im Jugendalter und in dieser Phase ihres Coming-out mit der Frage konfrontiert sähen, was sie in welcher Situation wem anvertrauen wollen. Selbstverständlich kommt solchen Erwägungen zu Beginn des Coming-out besondere Bedeutung zu. Letztlich sind es aber Fragen, die Lesben, Schwule und Bisexuelle zeitlebens begleiten. Auch wenn im Verlauf der Zeit mehr oder weniger automatisierte Reflexionen entstanden sind, muss die Entscheidung darüber, wem wann was zu sagen ist, auch von völlig „offen” lebenden Lesben und Schwulen stets von neuem getroffen werden. Dies bringt trotz aller dabei entwickelten „Routine” einerseits eine gewisse Belastung mit sich. Andererseits kann man diese Situation aber durchaus auch als konstruktive Herausforderung sehen und sie mit Edmund White (1996a) als Ausgangspunkt einer geradezu „philosophischen” Grundhaltung gleichgeschlechtlich empfindender Menschen verstehen: sind Lesben und Schwule doch durch die Wahrnehmung ihres „Anders”-Seins von Kindheit an gezwungen, ihre innerpsychische Situation und ihre Existenz in der von heterosexuellen Standards bestimmten Welt zu reflektieren, um ihr Leben in dieser - zum Teil schwierigen - Umwelt konstruktiv gestalten zu können.
Bei den Schritten in die Öffentlichkeit sind Coming-out-Gruppcn und die diversen Emanzipations- und Freizeitangebote für Homosexuelle für viele gleichgeschlechtlich empfindende Heranwachsende eine große Hilfe. Hier finden sie andere Lesben, Schwule und Bisexuelle, die den gleichen Weg gehen wie sie, und treffen auf Menschen, die für sie direkt erlebbare Modelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen sein können. Da die Entwicklung der Identität immer das Resultat eines intensiven Austauschprozesses zwischen den inneren Bildern und Gefühlen einerseits und den realen sozialen Erfahrungen andererseits ist, kommt diesen Erfahrungen aus dem Umgang mit anderen gleichgeschlechtlich empfindenden Frauen und Männern eine große Bedeutung zu.
Die zum Teil intensive Teilnahme an solchen lesbisch-schwul-bisexuellen Gruppen wird indes mitunter von der heterosexuellen Umgebung als „Ghettobildung” missverstanden und kritisiert. Beraterinnen und Therapeuten müssen sich jedoch darüber klar sein, dass es nicht darum geht, dass die gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen sich von der sozialen Realität „abkoppeln” und sich nur noch im „Milieu” (wie es nicht selten abwertend formuliert wird) bewegen, sondern dass die Teilnahme an lesbisch-schwul-bisexuellen Gruppierungen ein wichtiges Element im Prozess der Ausbildung einer positiven gleichgeschlechtlichen Identität ist. (Zu den sozialpsychologischen Aspekten der Entwicklung eines individuellen und kollektiven Selbst im Coming-out-Prozess s. Simon 1995.) Dies wird spätestens dann plausibel, wenn man bedenkt, dass heterosexuelle Menschen sich permanent in einer Umgebung bewegen, die ihrer eigenen sexuellen Orientierung entspricht, und sie sich auf diese Weise dauernd in ihrer Identität bestätigt sehen und diese sich dadurch immer mehr festigt. Gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen hingegen fehlt diese Erfahrung, und sie sind deshalb darauf angewiesen, sich Bezugsgruppen zu schaffen respektive zu suchen, die ihnen dieses für ihre Identitätsentwicklung zentrale Erleben vermitteln.
Die Aufgaben, vor die sich gleichgeschlechtlich empfindende Heranwachsende gestellt sehen, gleichen im Grund den Aufgaben, die auch heterosexuelle Menschen ihres Alters zu bewältigen haben: Es geht um die Festigung und Differenzierung der Selbstbilder, um die Ablösung von der Herkunftsfamilie mit den sie begleitenden innerpsychischen Umstrukturierungen, um den Aufbau eines eigenen Freundes- und Bekanntenkreises, um das Eingehen erster sexueller Beziehungen sowie um Entscheidungen hinsichtlich der späteren beruflichen Tätigkeit und um die damit zusammenhängenden Lebensentwürfe. Ziel der Entwicklung ist es, eine Autonomie zu erlangen, zu der u.a. die Fähigkeit gehört, in Beziehungen Nähe und Distanz in einem beide Partner befriedigenden Maße zu regulieren, Hingabe und Selbstbewahrung in einem ausgewogenen Gleichgewicht zu halten und in der Beziehung zu reifen.
Was das Eingehen sexueller Beziehungen betrifft, ist diesen Kontakten angesichts der Gefahr einer HIV-Infektion - in gleich- wie in gegengeschlechtlichen Beziehungen - viel an Unbekümmertheit, an im besten Sinne spielerischer Leichtigkeit und Freiheit genommen worden. Sich sorglos zu verhalten stellt heute eine Fahrlässigkeit dar; Unbekümmertheit kann eine tödliche Gefahr für die eigene Person und für den jetzigen wie für den späteren Partner bedeuten. Deshalb kann es kein unbeschwertes Eingehen sexueller Beziehungen mehr geben. Es können nicht mehr die verschiedenen Formen der körperlichen Begegnung im Sinne eines Erkundens und Erlebens der eigenen Sexualität und der des Partners bedenkenlos praktiziert werden. Stets müssen das eigene Handeln und das Verhalten des Partners kritisch reflektiert und auf etwaige Gefahren hin geprüft werden (zum Thema Aids s. auch Kap. 19).
Trotz etlicher Gemeinsamkeiten mit heterosexuellen Heranwachsenden befinden sich Lesben, Schwule und Bisexuelle in einer besonderen Lage, da ihre innere Orientierung und das daraus resultierende Verhalten nicht mit den Normen und Verhaltensmaximen übereinstimmen, die von der Majorität gelebt und propagiert werden. Sie können sich deshalb, wie erwähnt, gerade in der Phase des eigentlichen Coming-out nicht in dem Maße wie heterosexuelle Heranwachsende an Vorbildern orientieren, die sie täglich um sich herum erleben. Insbesondere müssen sie sich bewusst und kritisch mit den negativen Bildern auseinandersetzen, die nach wie vor in der Öffentlichkeit über Menschen mit homosexuellen und bisexuellen Orientierungen bestehen, und müssen realistische Vorstellungen von einer lesbischen und schwulen Lebensgestaltung entwickeln.
Im Hinblick auf die negativen Klischeebilder geht es beispielsweise um die Auseinandersetzung mit der entwertenden und in keiner Weise der Realität entsprechenden Vorstellung von einer weiblichen Identifizierung der Schwulen respektive einer männlichen Identifizierung der Lesben (vgl. Rauchfleisch 2001a). Vor allem die im pädagogischen Bereich Tätigen sehen sich dem belastenden Vorurteil gegenüber, gleichgeschlechtlich empfindende Menschen stellten eine „Verführungsgefahr” für Kinder und Jugendliche dar (zur Differenzierung zwischen Pädo- und Homosexualität s. Kap. 1.4); schließlich geht es um das bereits erwähnte oft fehlende Verständnis der Umgebung für das Bedürfnis von Lesben, Schwulen und Bisexuellen, in den verschiedenen homosexuellen und bisexuellen Gruppierungen Kontakt zu anderen gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen zu suchen.
Bisexuelle Heranwachsende und Erwachsene befinden sich in der Phase des eigentlichen Coming-out in einer nochmals speziellen Situation: Einerseits sind sie besonders irritiert, weil sie sich sowohl zu gleich- wie zu gegengeschlechtlichen Partnerinnen und Partnern hingezogen fühlen und sich unter Umständen - heute aber seltener als früher - mit Misstrauen und kritischer Distanz von seiten ihrer heterosexuellen wie der lesbisch-schwulen Bezugspersonen konfrontiert sehen. Andererseits empfinden sie jedoch in dieser Entwicklungsphase ihre „Andersartigkeit” weniger einschneidend als Lesben und Schwule, da sie aufgrund der ihre Entwicklung stark prägenden heterosexuellen Umgebung im allgemeinen das heterosexuelle Begehren zunächst stärker erleben und sich dementsprechend in dieser Phase vermehrt gegengeschlechtlichen Partnerinnen und Partnern zuwenden. Erst im Verlauf der weiteren Entwicklung tritt dann das gleichgeschlechtliche Begehren deutlicher hervor und zwingt die Betreffenden, sich auch mit dieser Seite ihrer Identität auseinanderzusetzen.
Bisher habe ich das eigentliche Coming-out bei Heranwachsenden beschrieben. Auch wenn heute wohl die Mehrzahl gleichgeschlechtlich empfindender Menschen diesen Entwicklungsschritt im Jugendalter tut (gemäß einer Umfrage von Biechele, 2001, unter Jugendlichen erfolgt das Coming-out heute in der Regel zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr), darf darüber nicht vergessen werden, dass in der älteren Generation und bei einem Teil der heute Aufwachsenden das eigentliche Coming-out auch erst im mittleren, unter Umständen, wenn überhaupt noch, erst im höheren Alter erfolgen kann. Dies bringt im allgemeinen etliche Schwierigkeiten mit sich, da ein jahre- bis jahrzehntelanges Geheimhalten der sexuellen Orientierung die betreffende Frau und den betreffenden Mann unter einen massiven Druck setzt und die immer weiter hinausgeschobene Entscheidung, sich zu „outen”, die Angst vor den Folgen eines solchen Schrittes enorm wachsen lässt.
In einer solchen Situation sind neben einer Unterstützung aus dem privaten Umfeld insbesondere auch Beratungen und therapeutische Begleitungen durch Professionelle hilfreich (vgl. Kap. 4, 5 und 6). Dabei gilt ganz besonders, dass jedes Drängen in eine bestimmte Richtung zu vermeiden ist und die Professionellen strikt das Ziel verfolgen müssen, die Ratsuchenden auf ihrem ganz individuellen Weg der Identitätsentwicklung und des Findens eines ihnen entsprechenden Lebens- und Beziehungsstils zu begleiten. Eine wichtige Aufgabe solcher Begleitungen ist, neben der Förderung der Identität, die Klärung der sozialen Situation, der Berufswelt wie des privaten Umfelds und die gemeinsame Suche nach der Art, in der die sexuelle Orientierung gelebt und, soweit gewünscht und möglich, sozial verwirklicht werden kann.

2.3 Integrationsphase
Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass in den Beziehungen nun körperlich-sexuelle und emotionale Aspekte gleichermaßen von Bedeutung sind. Lesben, Schwule und Bisexuelle suchen in den Begegnungen mit Partnerinnen und Partnern nicht mehr nur in erster Linie die sexuelle Erfüllung. Umgekehrt sind es auch nicht mehr die Zustände schwärmerischer, die reale Nähe des geliebten Menschen aber geradezu ängstlich meidender Verliebtheit. Es kommt in dieser Phase vielmehr zu einer ganzheitlichen, personalen Beziehung, die körperliche und seelische Aspekte gleichermaßen umfasst und dadurch, dass die Partnerinnen bzw. Partner sich nun auch in der Öffentlichkeit als Paar präsentieren, eine andere soziale Realität erhält als die früheren, in der Regel nicht nach außen sichtbar gewordenen Beziehungen.
Es liegt auf der Hand, dass derartige ganzheitliche Beziehungen eine größere emotionale Intensität erreichen und wesentlich mehr an Nähe mit sich bringen als frühere eher flüchtige Kontakte. Soll es zu einer für beide Partnerinnen bzw. Partner befriedigenden Situation kommen, ist es notwendig, dass sie aufgrund ihrer in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen Nähe und Distanz ausbalancieren können und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Selbstabgrenzung und Hingabe finden. In dieser Hinsicht bestehen keine grundlegenden Unterschiede zwischen heterosexuellen und lesbischen bzw. schwulen Paaren. Wann immer Menschen in einer engen Verbindung miteinander leben, sehen sie sich - und zwar stets von neuem – der Aufgabe gegenüber, den Prozess des Zusammenlebens miteinander zu gestalten, wobei sie ihr Verhalten einerseits auf die lebensgeschichtlichen und sozialen Umstände und andererseits auf die aktuelle innerpsychische Situation der Partner abstimmen müssen.
Dazu gehört bei Lesben und Schwulen - ebenso wie bei heterosexuellen Paaren - auch die Frage nach der Bedeutung der Treue in dieser Beziehung.
Je nach den für sie verbindlichen Norm- und Wertvorstellungen der Partner finden wir Paarbeziehungen, für die der Grundsatz gilt, keine „Nebenbeziehungen” einzugehen. Auch wenn solche exklusiven Zweierbeziehungen in dieser Phase des Coming-out die wohl häufigste Form des Zusammenlebens sind, gibt es daneben auch andere, weniger verbindliche Beziehungskonstellationen, in denen die Partner sich gegenseitig größere „Freiheiten” lassen.
In über längere Zeit hin stabilen Beziehungen spielen, wie bei heterosexuellen Paaren, neben der sexuellen Begegnung zunehmend auch viele andere Erfahrungen eine zentrale Rolle: die gegenseitige Unterstützung und Fürsorge, das Erleben von Gemeinschaft und Kameradschaft sowie das Teilen von Freud und Leid. Das heißt: den gemeinsamen Alltag mit allen seinen Belastungen miteinander zu meistern; das Zusammenleben mit den Rechten und Pflichten, die beide Partner dabei übernehmen müssen, zu organisieren; sich an den „kleinen Dingen” des Alltags miteinander zu freuen, aber sich daran unter Umständen auch zu reiben; zu lernen, miteinander konstruktiv Auseinandersetzungen zu führen und Kompromisse zu finden; im Interesse der oder des anderen Rücksichten zu nehmen und Verzichte zu leisten, aber auch sich selbst zu behaupten, wo dies notwendig ist; Desillusionierungen bei sich und der oder dem anderen zu bewirken und sich gegenseitig so zu akzeptieren, wie beide tatsächlich sind. Es ist das für alle engen Beziehungen gültige Erleben eines intensiven gegenseitigen Austauschs, an dem beide Beteiligten reifen können. Aus diesen Erfahrungen erwächst im Verlauf der Zeit ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die gemeinsame Geschichte schafft eine tiefe emotionale Verbundenheit, die oft entscheidend dazu beiträgt, auch krisenhafte Situationen miteinander durchzustehen und trotz aller Belastungen, die das Zusammenleben mitunter mit sich bringt, die Beziehung weiterzuführen und daran zu reifen.
Lesbische und schwule Paare sehen sich allerdings neben diesen für alle Beziehungen geltenden Aufgaben noch einer Reihe spezieller Probleme gegenüber. Das Hinaustreten als Paar in eine mehr oder weniger breite Öffentlichkeit stellt für sie immer auch ein gewisses Risiko dar. Für ihre Eltern und Geschwister wird mitunter die gleichgeschlechtliche Orientierung erst dann wirklich konkret, wenn ihnen eine Partnerin respektive ein Partner vorgestellt wird. Während vorher das Thema Homosexualität vielleicht relativ gelassen diskutiert werden konnte, erhält es eine völlig andere Färbung, wenn es als in einer Beziehung gelebte Realität sichtbar wird.
Dies kann positive wie negative Konsequenzen haben: Nicht selten wird die Brisanz des Themas deutlich entschärft, wenn eine Partnerin der Tochter oder ein Partner des Sohnes erscheint, die bzw. der sich als angenehmer, liebenswerter Mensch präsentiert. Umgekehrt kann es aber in dieser Phase auch zu massiven Konflikten kommen, da sich durch das Auftreten einer konkreten Person das Thema Homosexualität nicht länger totschweigen oder mit dem Argument „Das ist nur so eine Laune, die wieder vergehen wird” beiseite schieben lässt.
Ähnlich ist es im weiteren privaten wie beruflichen Umfeld. Bei Firmenessen, öffentlichen Anlässen und privaten Einladungen bedarf es immer wieder der Entscheidung, ob sich die Lesbe oder der Schwule als Einzelperson ansprechen und einladen lässt oder ob sie respektive er die gleichgeschlechtliche Orientierung offenlegt und darauf verweist, in einer Partnerschaft zu leben. Dies ist insbesondere in kirchlichen Kreisen mitunter eine höchst konflikthafte Situation, wenn damit gerechnet werden muss, dass mit dem Bekanntwerden der Homosexualität eine massive Ausgrenzung des ehemals vielleicht geschätzten, in etlichen kirchlichen Ämtern tätigen Gemeindeglieds erfolgen wird (vgl. den autobiographischen Bericht von Manfred Bruns 1993).
Bei allen solchen schwierigen Situationen ist indes zu berücksichtigen, dass in der Integrationsphase die innere Sicherheit und die Selbstakzeptanz in der Regel bereits so weit gefestigt sind, daß diese Probleme gemeistert werden können. Außerdem wirkt sich das Leben in einer Paarbeziehung, in der die anfallenden Probleme besprochen werden können und die Partner miteinander nach Lösungen suchen, weiter stabilisierend aus. Auf der anderen Seite ist aber auch zu bedenken, daß die im privaten wie im beruflichen Umfeld erlebten Konflikte zum Teil erhebliche Belastungen für die Partnerschaft mit sich bringen. Während heterosexuelle Paare dadurch, dass sie von juristischer und kirchlicher Seite Sicherung und Bestätigung erfahren und als Paar und nicht als Individuen angesprochen werden, in ihrer Paarbeziehung stabilisiert werden, wirkt sich die Reaktion der Umgebung auf gleichgeschlechtliche Paare oft ausgesprochen destabilisierend aus.
Gleichgeschlechtliche Paare sind deshalb Belastungen ausgesetzt, die heterosexuelle Paare in dieser Art und Intensität nicht erleben. Dennoch zeigen vergleichende Studien an gleich- und gegengeschlechtlichen Paaren, dass die Zufriedenheit der Partnerinnen und Partner in lesbischen und schwulen Beziehungen größer ist und hier im allgemeinen eine egalitäre, wesentlich flexiblere Rollenverteilung stattfindet als in vielen traditionellen heterosexuellen Ehen (Krüger-Lebus & Rauchfleisch 1999; Kurdek 1993; Patterson 1995; Seferovic 2001).
Besonders schwierig ist die Situation allerdings für Lesben und Schwule, die erst im Erwachsenenalter ihr Coming-out durchlaufen, und für bisexuelle Menschen, vor allem wenn sie in einer ihnen auch emotional viel bedeutenden Ehe leben und Kinder haben. Sie geraten nicht selten in erhebliche Konflikte, wenn sie die gleich- ebenso wie die gegengeschlechtliche Seite ihrer Orientierung leben wollen. Häufig werden bisexuelle Menschen sich ihrer Orientierung erst während der Ehe bewußt. Zögernde Schritte in die Welt der Lesben und Schwulen führen zwar zu sexueller Befriedigung und lassen die Gewissheit, bisexuell zu sein, größer werden. Doch werden damit zugleich auch die Probleme, denen sich diese Frauen und Männer „zwischen den Grenzen” (Gleitz 1987) gegenübersehen, zunehmend größer. Es ist in dieser Situation nicht nur die Befürchtung, der Ehepartner könnte die gleichgeschlechtlichen Kontakte entdecken, oder die Angst vor den sozialen Konsequenzen, wenn die lesbische bzw. schwule Seite bekannt würde, sondern es ist vor allem auch die innere Unsicherheit angesichts der von Männern wie von Frauen ausgehenden erotisch-sexuellen Attraktion, die den Prozeß der Selbstfindung bisexueller Menschen so schwierig macht.
Verheiratete Lesben, Schwule und Bisexuelle erleben diesen Konflikt besonders schmerzlich, da sie einerseits ihre enge emotionale Verbundenheit mit Ehegatten und Kindern spüren, andererseits aber auch ihre lesbische respektive schwule Seite leben möchten. Sie müssen sich nicht nur mit den Gefühlen und Reaktionen ihrer Ehepartner auseinandersetzen (Hart & Richardson 1981; Lathan & White 1978; Wirth 1978), sondern sehen sich bei Versuchen, eine Beziehung zu gleichgeschlechtlichen Partnerinnen oder Partnern aufzubauen, auch von deren Seite her mitunter mit großem Misstrauen konfrontiert. In dieser Situation, in der Eltern wie Kinder, unter Umständen aber auch die Herkunftsfamilien der Ehegatten, oft einer großen Irritation ausgesetzt sind, können professionelle Beratungen und Begleitungen einzelner Personen, aber auch des ganzen Familiensystems wichtig werden und wesentlich zur Entlastung aller Beteiligten beitragen (vgl. Kap. 10.3 und 10.4).
Auch wenn es viele über Jahre und Jahrzehnte stabile lesbische und schwule Partnerschaften gibt, finden sich, verglichen mit heterosexuellen Beziehungen, bei gleichgeschlechtlich Empfindenden doch häufiger Beziehungsabbrüche und das Eingehen neuer Partnerschaften. Es ist schwierig zu erklären, warum es zu solchen mehrfachen Partnerschaften kommt. Wesentliche Ursachen dürften in dem bereits diskutierten Fehlen der sozialen Akzeptanz und der - trotz der jetzt in Deutschland möglichen juristischen Absicherung der Partnerschaften - nach wie vor in etlicher Hinsicht nicht zufriedenstellend geregelten rechtlichen Situation liegen (z.B. im Hinblick auf die steuerlichen Bedingungen, das Adoptionsrecht etc.). Daraus resultieren für diese Paare Belastungen nicht nur für ihr individuelles, sondern auch für ihr gemeinsames Coming-out. Hinzu kommt das Fehlen von positiven Leitbildern und von Modellen gleichgeschlechtlicher Lebensweisen.
Für Beratungen und Therapien ist es wichtig zu berücksichtigen, dass hinsichtlich der Beziehungsformen Unterschiede zwischen Lesben und Schwulen bestehen. Neben jahrzehntelangen festen Partnerschaften (berühmte Paare sind der Komponist Benjamin Britten und der Sänger Peter Pears sowie die Künstler Jean Cocteau und Jean Marais) finden wir bei Schwulen nicht selten eine Beziehungsform, bei der eine emotional hoch bedeutsame, „verbindliche” Beziehung zu einem bestimmten Partner besteht und daneben gelegentliche sexuelle Beziehungen zu anderen Partnern gepflegt werden, wodurch die Hauptbeziehung jedoch in keiner Weise gefährdet wird.
Lesbische Beziehungen folgen hingegen eher dem Muster der monogamen, über lange Zeit stabilen Partnerschaft (zur Dynamik lesbischer und schwuler Paarbeziehungen s. Kap. 9.1 und 9.2).
Diese Geschlechtsunterschiede sind jedoch keine Spezifika lesbischer und schwuler Menschen, sondern finden sich in weitgehend ähnlicher Weise auch im heterosexuellen Bereich. Auch hier neigen die Männer starker dazu, Nebenbeziehungen (hier ,“Seitensprung” genannt) einzugehen, während die Frauen eine stärkere Tendenz zur Stabilität ihrer Beziehungen erkennen lassen. Die Ursache dieser Geschlechtsunterschiede dürfte in der unterschiedlichen Sozialisation von Frauen und Männern liegen: Während Frauen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, in unserer Gesellschaft nach wie vor auf das Ideal der Monogamie hin erzogen werden, gilt es für Männer, über alle sexuellen Orientierungen hinweg, keineswegs als anstößig - ja oft geradezu als „Gütezeichen” ihrer Männlichkeit -, verschiedene sexuelle Beziehungen einzugehen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen schwulen und heterosexuellen Männern liegt allerdings darin, dass die „Seitensprünge” im heterosexuellen Bereich den Partnerinnen gegenüber in der Regel verheimlicht werden, während die Nebenbeziehungen in schwulen Partnerschaften oft mit Wissen des Partners erfolgen und die Hauptbeziehung nicht gefährden.
Bei der Diskussion der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften stellt sich allerdings die Frage, ob es überhaupt sinnvoll und legitim ist, diese Beziehungen am Ideal der monogamen, lebenslang bestehenden heterosexuellen Ehe zu messen - und dies in einer Zeit, in der die Scheidungsrate bei über 50 % liegt, jede dritte Familie eine Eineltern-Familie ist und die sogenannte „sequentielle”·(d.h. die auf eine bestimmte Lebensspanne beschränkte) Partnerschaft auch in der heterosexuellen Gesellschaft weit verbreitet ist (Rauchfleisch 1997). Um es noch pointierter auszudrücken: Könnten nicht Lesben und Schwule geradezu eine Avantgarde neuer, kreativer Beziehungsgestaltungen sein, die auch für heterosexuelle Paare wegweisend sein könnten, wie Edmund White (1996b) es in seinem Essay „Die Freuden des schwulen Lebens” beschreibt? Die egalitäre Rollenverteilung, das partnerschaftliche Aushandeln der beidseitigen Rechte und Pflichten, die große Sensibilität für eine ausgewogene Nähe-Distanz-Regulierung und die Beachtung der Autonomie beider Partner, dies alles stellt charakteristische Merkmale der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften dar und könnte, wenn es ähnlich in heterosexuellen Beziehungen verwirklicht würde, dazu führen, dass auch gegengeschlechtlich empfindende Frauen und Männer eine wesentlich größere Zufriedenheit in ihren Ehen und nicht-ehelichen Partnerschaften erlebten.
Zur Integrationsphase gehört schließlich auch die Auseinandersetzung von Lesben, Schwulen und Bisexuellen mit dem fortschreitenden Alterungsprozess und seinen Konsequenzen. Auf der einen Seite sind sie mit denselben Fragen konfrontiert wie heterosexuelle Frauen und Männer: mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, mit der Adaptation an den veränderten Lebensrhythmus und die sich verändernden körperlichen und psychischen Prozesse sowie mit der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod (Rauchfleisch 2001b). In mancherlei Hinsicht sind Lesben und Schwule, die ihre Angelegenheiten lebenslang selbständig organisiert haben, auf diese Veränderungen sogar besser vorbereitet als viele heterosexuelle Männer, die sich in ihren Partnerschaften vielfach weitgehend auf ihre Ehefrauen stützen und ohne sie oft hilflos den Lebensaufgaben, die sich stellen, gegenüberstehen (s. Beeler et al. 1999; Grossman et al. 2000; Quam & Whitford 1992).
Auf der anderen Seite wird mitunter die Einsamkeit des gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen in einer stark von heterosexuellen Vorstellungen bestimmten Welt im Alter besonders schmerzlich spürbar. Diese Einsamkeit ist im schwulen Bereich zum einen durch die oft bis zum Kult stilisierte Bedeutung der Jugendlichkeit und der körperlichen Attraktivität bedingt, ein Phänomen, das sich durchaus auch im heterosexuellen Bereich, hier aber weniger ausgeprägt, findet (vermutlich weil heterosexuelle Männer diesen Kult an ihre Frauen delegieren und auf diese Weise gleichsam·“aus zweiter Hand” daran teilnehmen). Zum anderen rührt die mitunter größere Einsamkeit von Lesben und Schwulen im höheren Alter daher, dass es für sie trotz der heute bestehenden größeren Akzeptanz der Homosexualität äußerst schwierig, wenn nicht in der Regel sogar unmöglich ist, in Alten- und Pflegeheimen offen lesbisch oder schwul zu leben oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft zu pflegen (zu den therapeutischen Implikationen dieser Situation s. Baron & Cramer 1999). Nur vereinzelt bestehen bisher Wohnprojekte für Lesben und Schwule im höheren Lebensalter (so in Amsterdam) oder aber befinden sich in Planung (wie in Zürich).
Aus: Gleich und doch anders. Das Buch ist bei Klett-Cotta erschienen, hat 246 Seiten, kostet 27,50 Euro, ISBN 3-608-94236-X Siehe auch in dieser Page unter Kultur, Archiv, Buchbesprechungen 73. LUST.