82. LUST, Frühling 05
 
Das Coming-out
ist eine entscheidende Situation im Leben eines Menschen, nämlich das zu akzeptieren, was man schon vorher geahnt oder befürchtet hatte: „Ich bin homosexuell“. Und nun muss man lernen, wie das ist, lesbisch oder schwul zu sein.
 
Hi Gay Guys `n Girls,
in der 81. LUST haben wir uns mit der Frage der Heterosexualisierung unserer Szene beschäftigt, was uns das Leben in unserer Szene nur Oberflächlich erleichtert und unproblematisch macht. Und deshalb beschäftigen wir uns hier mit Gedanken, wie wir unser Coming-out, das nie aufhört, angemessener gestalten könnten. Aber vor der Praxis ist die Theorie nötig. Daher:
 
Coming-out ist mehr
Sicher, das Coming-out ist nicht unbedingt mehr, als wir es über die Medien kennen, es sollte aber mehr sein. Denn da wir eine Community mit ganz unterschiedlichen Menschen sind, wirkt sich eines auf das andere aus, wirken sich z.B. unvollständige Coming-out-Prozesse auch auf andere Lesben und Schwule aus, die zwar theoretisch weiter sind, aber kaum PartnerInnen für die praktische Umsetzung eines anderen weiterführenden gemeinsamen Lebens finden.

Sicher, es geht erst einmal um ganz praktische Fragen, nämlich, wie man sich Eltern, Anverwandten und einem Umkreis von Mitmenschen verständlich macht, den man sich nicht aussuchen kann: MitschülerInnen, ArbeitskollegInnen usw.

Aber wenn es darum geht wie wir denn wirklich stattdessen leben wollen, kommen viele Lesben und Schwule im Coming-out auf nicht anderes als auf das Leben heraus, das schon Eltern und Geschwister leben. Wie unsere Eltern und nichthomoseuellen Geschwister leben, ist uns ein Vorbild und es gibt über die Herkunftsfamilie einen mehr oder weniger sanften Druck, lesbische oder schwule Beziehungen nach diesem Muster zu leben. Dieses Leben sollen wir führen, nur eben auf lesbisch oder schwul, also mit einer Lesben oder einen Schwulen. Aber ist denn das wirklich so gut für uns? Klar, die Rahmen unserer Bewegungsfreiheit sind eng. Wir leben ja in der gleichen Umwelt, lesen und sehen die gleichen Medien usw. diskutieren über die gleichen Ideologien und Religionen usw.

Ist da ein anderes Gesellschaftsbild denkbar? Sind da andere Formen des Zusammenlebens denkbar?

Denkbar ist Vieles, aber kann man dann auch so leben, wie man sich das vorstellt?
Aber andererseits: wenn man nicht einmal anderes für denkbar hält, wird man auch nichts Anderes bekommen. Also lohnt es sich schon einmal, darüber nachzudenken, wie denn unser Leben und unsere Szenen-Umwelt gestaltet sein müssten, damit wir uns in ihr wohler fühlen, besser leben können und mehr Lebensglück erleben können.
 
Lesben und Schwule sind ganz normale Frauen und Männer, sie lieben eben nur das gleiche Geschlecht
Solche Auffassungen hört und lesen wir immer wieder. Und natürlich stimmt das, denn wir Lesben unterscheiden uns von den anderen Frauen nicht wirklich, und wie Schwule unterscheiden uns von den anderen Männern auch nicht besonders.

Aber ist das die ganze Wahrheit? Da gibt es viele Bereiche, wo der Teufel im Detail liegt. Schon bei der Frage, was ein richtiger Mann ist und eine richtige Frau, haben wir aus eigenem Erleben eine andere Sichtweise: Es gibt nämlich eine ganze Palette von Fauentypen wie es eine große Palette von Männertypen gibt. Und der Unterschied zwischen ihnen hat erst einmal nichts mit der sexuellen Ausrichtung zu tun. Und bei der Größe der Paletten gibt es eine Übergangszone zwischen Frauen und Männern, wo auch das Geschlecht selber kaum eine Rolle spielt. Ja, wir sind Frauen und Männer oder etwas dazwischen wie die anderen auch, nur werden uns andere Teile der großen Palette von Möglichkeiten zugeschrieben, und weil dies so ist, erlauben wir uns auch mehr als die Heten, andere Teile der großen Möglichkeiten zu leben.

Beim Anbaggern ist ja klar, wer anbaggert und wer sich anbaggern lässt. Die Männer baggern und die Frauen lassen sich mehr oder weniger aktiv oder zurückhaltend anbaggern. Und wie ist das bei uns? Bei uns gibt es da ein diffiziles Rollenspiel, was dann zum Erfolg führt, wenn die Frau (der Mann) die Rolle spielt, die das Gegenüber erwartet, und wenn die gespielte Rollen den Erwartungen des Gegenübers, nach dessen Einschätzung, entspricht. Wer sich da verschätzt, hat schlechte Karten. Aber da wir in einer Gesellschaft mit klaren Geschlechtrollenvorgaben leben, kann es durchaus vorkommen, dass sich aus der aktiven oder passiven Rolle beim Baggern auch gleich noch die Sexrolle ergibt, doch das ist in unserer Szene nicht zwingend, kann aber sein.

In Beziehungen ist das im Hetenbereich auch klar geregelt, auch wenn die Dinge in bestimmten Zeiten wieder fließend sind.
Wir führen das ja auf die Notwendigkeit zum Kriegsführen zurück. Wenn der eigene Staat Soldaten, also Helden, benötigt, gleichzeitig dann Versorgungskräfte zum Beispiel in den Hospitälern als Krankenschwestern, dann tauchen in den Filmen und Fernsehshows wieder ganz besonders männliche Männer und ganz besonders weiblich Frauen auf.

Und so sorgt eben die Frau um die Moral in der Beziehung und die Darstellung gegenüber den Nachbarn. Und der Mann sorgt dafür, dass es der Beziehung wirtschaftlich gut geht. Und wie ist das in unseren Beziehungen? Wer hat den Blick für das schmutzige Geschirr, wer kümmert sich darum, dass die Nachbarschaftskontakte gepflegt werden? Wer erinnert sich an die Geburtstage der ganzen Anverwandten? Hier muss zwischen den PartnerInnen vieles erprobt werden, was bei den Heten aufgrund der Geschlechtsrollen festzustehen scheint. Es scheint fest zu stehen, denn auch das ist kein Naturgesetz.

Und wie ist das mit der Liebe und der Treue? Bei den Heten ist klar, ein Mann heiratet eine Frau und dann kommen die Kinder dazu. Nun gibt es auch bei Uns Beziehungen mit Kindern, nämlich dann, wenn Kinder aus dem heterosexuellen Vorleben schon da sind, bevor das Coming-out erfolgte. In der Regel sind aber keine Kinder da. Daraus ergibt sich, dass ein Paar nach einer gewissen Zeit in einer gewissen Eintönigkeit lebt, die Eltern verspüren, wenn die Kinder aus dem Hause sind.

Der Mann ist der Jäger, auch in Beziehungen, die Frau ist das Jagdglück, das den Jäger an sich bindet. Nun ja. Deshalb haben wir dann Beziehungen von Männern, die das jagen nicht aufgeben können, und Beziehungen von Frauen, die das Festhalten nicht aufgeben können.

Auch hier haben die Frauenpaare und die Männerpaare viel zu lernen. Paare? Wer schreibt eigentlich vor, dass in einer Beziehung nur zwei Personen leben können? In unserer Szene gibt es eine ganze Vielfalt von Lebensformen. Drei Männer oder drei Frauen. Zwei Frauen und ein Mann, Zwei Männer und eine Frau. Wie das gehen soll?

Da gibt es das Märchen, dass eine Beziehung vorrangig durch die Liebe (zu der vorrangig Sex gehört) zusammengehalten wird. Fragt doch mal eure Eltern, ob das so ist. Oft ist durch den Treuezwang die Ehe zu einer gegenseitigen Sexvermeidungsanstalt geworden, weil ja Sex die Beziehung bedroht, weil durch Sex neue Beziehung entstehen kann. Man schläft nicht mehr miteinander, weils nicht mehr erregt, aber mit jemand anderes dürfen die PartnerInnen auch nicht. Diese Beiziehung hat auch ohne Sex viel Inhalt. Und so gibt es auch lesbische oder schwule Beziehungen mit viel Inhalt, in denen Sex keine so große Rolle mehr spielt, die aber dennoch ihre Berechtigung haben, weil sich die PartnerInnen auf andere Art lieben: sie sind miteinander vertraut. Und das geht auch mit anderen Konstellationen als immer zwei Menschen. Und wer bestimmt eigentlich, dass eine Lesbe ausschließlich Sex mit Frauen hat und ein Schwuler ausschließlich Sex mit Männern?

Wir unterscheiden uns hier in unserer Praxis, obwohl die Heten vor ähnlichen Fragen stehen.
 
Kuckukskinder
Nicht nur Männer scheinen fremd zu gehen, viel Frauen tun es auch, denn sonst könnte das Fremdgehen ja auch nicht klappen. Es scheint so zu sein, dass die Sorte Männer, die eine Frau für ihre Familie als Familienvater sucht, nicht unbedingt die Sorte Mann ist, die eine Frau erotisch fasziniert.

Hoppla, das bringt das ganze Gebäude von Liebe und Eifersucht durcheinander. Frauen, die die Moral in der Beziehung mit ihren Mann pflegen, ihn mit Vorwürfen traktieren, wenn er zu spät von der Arbeit kommt, verbergen sie vielleicht dahinter ihre Seitensprünge? Und sie können ihrem Mann nicht das gleiche zugestehen, weil dann die Kinder beziehungsweise die Familie möglicherweise nicht mehr durch den Familienmann versorgt sind?

Und wie ist das bei uns, wo keine Kinder entstehen? Sind Lesben, die ihre Freundinnen klammern, wirklich so treu? Und sind Schwule, die große Treue von ihrem Partner selber treu?

Vielleicht täten wir besser, wenn wir „treu“ im Sinne von Ehrlich verwenden, und uns gegenseitig zugestehen, dass wir Menschen sind.
 
Hinter jedem großen Mann steht ein starke Frau
hieißt es aus der feministischen Bewegung. Und mir Recht, denn der erfolgreiche Mann in der Wirtschaft könnte seine Leistungen nicht erbringen, wenn ihm nicht der Rücken freigehalten würde, und das geschieht in der Regel durch eine Frau. Allerdings gibt es nicht nur „große Männer“, sondern auch ganz üble Männer. Und hinterdenen steckt dann keine starke Frau sondern ein Biest, ein Miststück.
 
Oder?
Ist es nicht auch immer mal so, dass hinter so manchem unangenehmen Zeitgenossen eine boshafte Frau steht, die ihn gerade in dieser Eigenschaft antreibt? Also wer die Heterosexualisierung der Lesben und Schwulen für normal hält, wird sagen: hinter jedem großen Mann kann auch ein starker Mann stehen, ebenso wie hinter jeder großen Frau auch eine starke Frau stehen kann.

Natürlich stimmt das auch. Klar. Und der betreffende Mensch wird uns vielleicht auch noch recht geben, dass hinter einem Miesen Mann auch ein boshafter Mann stehen könnte und hinter einer hinterhältigen Frau auch eine boshafte Frau.

Aber, gibt es das denn überhaupt? Gibt es denn einen „großen Mann“ oder eine „große Frau“? Und gibt es denn das Gegenteil auch? Klar, wird jeder Mensch sagen, denn wir begegnen ihnen ja in den Medien und im Lexikon.

Aber wir wissen doch, dass die sogenannten „großen Männer“ (und Frauen) auch deshalb so groß sind, weil sie viele andere Männer (und Frauen) zur Seite räumen konnten, und das ist oft auch gar nicht so groß, sondern mies, hinterhältig, skrupellos usw. Es gibt sie gar nicht, die „großen“. Und wenn sie so dargestellt werden, dann deshalb, weil sie selber und andere, die daraus Vorteile haben, sie so darstellen müssen.
Das waren einige Denkansätzen zum Thema der Gleichheit von LesbGayGirl und Old-Gayman