Grußwort zur 75. LUST
Diese Sommer-LUST kommt leider einen Monat später heraus,
als wir das vorgestellt haben, und das hat uns geärgert.
Aber es war auch ein Glück, weil wir dadurch die Möglichkeit
hatten, noch über das Open-Ohr-Festival zu berichten, was
uns in unserer Fragestellung über die Hoffnungen und Ängste
Jugendlicher unserer Zeit geholfen hat. Wir konnten auch noch
den Beitrag über die drei Iraner in diese Ausgabe aufnehmen.
So weit, so gut.
Der CSD 2003 kommt mir, angesichts von Sozialabbau und einer massiven
Umverteilung von unten nach oben vor, wie ein gigantischer Eskapismus,
also wie eine riesige Realitätsflucht. Aber es macht einfach
auf Dauer keinen Spaß, ständig wie ein Kaninchen auf
die Schlange in die schlechter werdende Zukunft zu schauen. Auch
ich habe Lust, im Rahmen der großen ausgelassenen CSD-Feiern
von Alltagssorgen Urlaub zu machen. Ich mache dies mit gutem Gewissen,
denn der CSD ist ja ohnehin zu einem unpolitischen Fest geworden,
obwohl immer mal irgendwo Losungen auftauchen, die keiner zur
Kenntnis nimmt und die niemanden interessieren.
Aus dem Geist des Kapitalismus wurde die moderne Homosexuellenbewegung
geboren - denn die nächtliche Bar in der Christopher-Street
war ja kein autonomes Homozentrum, sondern eine Stätte, die
auf Umsatz und Profit achten musste, um nicht in Konkurs zu gehen.
Deshalb geht die Kritik am Kommerzialismus der Homobewegung auch
ins Leere, schreibt Jan Feddersen im CSD-Magazin der taz
zum Berliner CSD am 21. und 22.6. Er schreibt weiter: Und
weil Homosexuelle heute irgendwie bis in die mittigste Mitte der
Gesellschaft auf grundsätzliche Okayness stoßen, sind
die CSD-Paraden auch so beliebt. Dann lästert er über
die andere, die politische CSD-Demo und meint: Der größere
Umzug ist die Bühne für alle Waschbrettbauchfreunde,
der kleinere die Plattform für alle, die sich zur Homowelt
auch noch was denken und dies nicht für sich behalten wollen.
Er ist zumindest hier höflich genug, nicht offen zu schreiben:
Der kleinere ist die Plattform für die Dicken und Hässlichen.
Politik ist eben nicht immer strahlend und hübsch anzusehen.
Offensichtlich haben im Juni 1969 die Gays (Schwulen, Lesben,
Transvestiten usw.) in New York deshalb den Aufstand gegen die
Polizeirazzien gewagt, weil sie dafür sorgen wollten, dass
in der Gay-Szene immer gut Geld verdient wird, dass die ganze
Gay-Szene eine großes Warenhaus mit angeschlossener Disco
ist, könnte man meinen, wenn man Jan Feddersen glauben möchte.
An einer Stelle aber kann ich ihm zustimmen. Nämlich dass
der CSD zu einer Art Heimattreffen für die Gays wurde.
Wenn es denn nun mal so ist, nutzt es nichts, gegen Windmühlenflügel
anzukämpfen. Es bleibt nur die Wahl, mitzufeiern oder wegzubleiben.
Also es schadet doch nichts, wenn man mitfeiert.
In Wiesbaden hat es der Come-out-Verein, der viermal einen CSD
organisiert hat, in diesem Jahr finanziell nicht geschafft, ein
Straßenfest zustande zu bringen. Die KritikerInnen wissen
wohl nicht, was die Stadt alleine für die Nutzung des Platzes
verlangt. Hinzu kommen Bühnenaufbau und andere Kosten. Es
klappte nicht. Die Aktion in der Fußgängerzone wurde
von der Feierszene schlicht boykottiert. Das finde ich sehr erbärmlich.
Wenn wir auch als sechsmalige VeranstalterInnen eines CSD in Wiesbaden
über die Methoden des Come-out-Vereins immer noch sauer sind,
den CSD an sich zu reißen, müssen wir ihn hier auf
jeden Fall unterstützen. Vielleicht ist es möglich,
den Wiesbadener CSD gemeinsam in der einen oder anderen Form wieder
zu beleben.
In dieser Form, wie ihr nun die Zeitschrift LUST auf eurem Tisch
liegen habt (diese Form gibt es seit der 60. Ausgabe) wird die
LUST noch vier mal
erscheinen. Danach wird sie wieder in die Offensive gehen und
das heißt: in die Breite und in die Szene. Könnt ihr
euch nicht vorstellen? Ihr werdet es sehen!
Deshalb laden wir euch alle ein, alle, die Lust haben, an der
dann neuen Lust mitzumachen, schon jetzt zu uns zu
kommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Ohne euch, die engagierten
LeserInnen einer engagierten Zeitschrift, gehts nämlich nicht.
Sehen wir uns beim CSD in Frankfurt vom 18. bis 20.7. und bei
der Sommerschwüle am 26.7. in Mainz? Wir werden dort u.a.
auch das Spiel machen, über das wir im Artikel über
das Open-Ohr-Festival in dieser LUST berichten.
Wir wünschen euch heiße CSD-Feiern und viel geile Erfüllung
all eurer erotischen Sehnsüchte.
Ich grüße euch, auch im Namen der anderen Lüstlinge,
Euer Joachim von der LUST