Grußwort zur 65. LUST
 
Diese 65. LUST ist die 6. Ausgabe in der neuen Version, als Verkaufszeitschrift, und 6 Ausgaben sind nach unserer Zählung ein Jahr. Wer hätte das gedacht.
Allmählich lernen wir, mit dieser Situation zurechtzukommen. Wir haben uns schon ganz darauf eingestellt, dass wir eine Kaufzeitschrift herstellen. Die LeserInnen nehmen die LUST nicht mit, weil sie da rumliegt und man eben mitnimmt, was es kostenlos gibt, sondern sie wollen gerade die LUST haben, vielleicht auch gerade diese LUST haben, und dafür geben sie Geld aus, dass Bekenntnis dafür, dass sie uns wollen.
Können wir darauf stolz sein? Nun, Stolz ist in unseren Tagen zu einem umstrittenen Wort geworden. Verzichten wir also, es zu benutzen. Natürlich wollen wir ein weiteres Jahr die LUST herausgeben oder länger. Allerdings, wir richten uns an eine Minderheit (die politisch aufgeschlossenen und interessierten Lesben und Schwulen) in der Minderheit (den Lesben und Schwulen). Da sind die potentiellen KäuferInnen und AbonnentInnen naturgemäß begrenzt. Wir brauchen aber deutlich mehr AbonnentInnen und KäuferInnen, und die letzteren erreichen wir nur durch eine Ausweitung der Verkaufsplätze.
Leute, die z.B. Fußballzeitschriften verkaufen oder die Bildzeitung, sind natürlich gewöhnt, dass da ganz andere Auflagen (und Kaufpreise) über ihren Ladentisch wandern. Wir könnten noch so platt, bunt und nichtssagend werden, damit können wir einfach nicht konkurrieren. Können wir uns also nun freuen, dass wir uns ein weiteres Jahr durchgebissen haben?
Ich meine schon, das ist nicht rational, sondern bei mit emotional begründet. Vielleicht liegt es auch daran, dass das Wetter wärmer wird.
In dieser Ausgabe geht es unter anderem um Gotteslästerung. Das Bildchen im Artikel auf der gegenüberliegenden Seite war lange Zeit Gegenstadt juristischer Auseinandersetzungen. Die Kirchen zeigten die Veröffentlichung dieses Bildes als Gotteslästerung an, § 166 StGB. Auf diesem Bild ist zu sehen, wie ein Repräsentant der Kirche, ein Pfarrer also, uns mit einer Puppe vor der Nase rumfuchtelt, wahrscheinlich um uns dazu zu bewegen, der Kirche zu gehorschen. Es wird also gar nicht Gott abgebildet und gelästert, sondern das, was die Kirche als Gott interpretiert und uns vor die Nase hält. Es ist bezeichnend, dass sie gerade gegen diese Darstellung Klage erhoben hat. Zum Glück ging die Sache gut aus. Näheres zum Paragraphen im Artikel.
In der 61. LUST habe ich das Buch „Was tun gegen rechts“ besprochen. Der Titel hatte kein Fragezeichen, war also gleichzeitig eine Aufforderung. Hier wird ausgesagt, dass die Machtergreifung der Nazis in den europäischen Ländern der 20er und 30er Jahre das Ergebnis eines langen vorbereiteten Prozesses war und im Bündnis mit konservativen Kräften geschah, wobei die Nazis nicht immer die Stärkeren gewesen waren. Daraus ist zu schließen, dass konservative Kräfte letztlich den Nazis die Türen öffneten. Eine Gefahr der Machtergreifung der Nazis sieht der Autor dann gegeben, wenn das Bürgertum selbst nationalistisch wird und auf die Nazis zugeht.
Wir erleben, wie die Union sich nicht scheut, die Regierung mit Parolen und Vergleichen unter Druck zu setzen, die vor nicht zu langer Zeit eigentlich nur von den Nazis kamen. Das sollte uns zu denken geben.
Aber nicht nur dies ist Gegenstand besorgter Beiträge in dieser Ausgabe der LUST, sondern es geht auch um die Gentechnologie, um unsere Identität (gibt es uns überhaupt?), um Gewalt, auch speziell gegen Lesben und anderes.
Worüber wir nicht gechrieben haben, das ist der Runde Tisch im hessischen Sozialministerium, der mal wieder (nach einem Jahr Pause) stattfand und für den ich mir extra frei nehmen musste. Eine Gruppe hatte zum Thema „Lesben und Schwule im Alter“ gearbeitet und dies interessierte mich aus vielerlei Gründen. Erstens bin ich selbst nicht mehr der Jüngste, aber deutlich jünger als unser ältestes Gruppenmitglied, der 84jährige Willi, der nun nicht mehr kommen kann. Er ist in einem geschlossenen Heim und fühlt sich nun wieder in solch einer Lage, dass niemand der HeimbewohnerInnen und BetreuerInnen etwas von seiner Homosexualität wissen darf. Es würde zu weit führen, hier nebenbei die näheren Umstände zu erläutern. Aber eines weiß ich, ich stelle es mir furchtbar vor, in meinen letzten Tagen oder vielleicht Jahren einen wichtigen Teil meiner Identität nicht mehr leben zu können. Vielleicht auch nur zu glauben, dass ich ihn nicht mehr leben kann.
Leider waren die Diskussionen darüber, ob die vielen Absagen und Missverständnisse im vergangenen Jahr auf die CDU-Politik zurückzuführen seien oder nur Zufälle waren, äußerst zeitraubend. Auch die Diskussionen darüber, wie das CDU-Land die Homo-Ehe umzusetzen gedenke, verbrauchten derart viel Zeit, dass es zum Referat und der Aussprache darüber, was man bezüglich Lesben und Schwulen im Alter machen könne, nicht mehr kam. Nebenbei erfuhren wir noch, dass das Landesjugendamt aufgelöst worden war und die Arbeit kommunalisiert wurde. Und da das Ministerium nur einmal jährlich einen Runden Tisch erlaubt, schien das recht trostlos zu sein. Man beschloss, am Freitag, dem 26.10. eine Fachtagung zum Thema „Lesben und Schwule im Alter“ durchzuführen. Der Völklinger Kreis Wiesbaden, wollte diese Tagung noch zum CSD Wiesbaden durchführen, weil der so unpolitisch sei, aber diese witzige Begründung erhielt keine Mehrheit.
Liebe LUST-LeserInnen, Ihr seid eine exklusive Minderheit, darauf könnt Ihr Euch was einbilden. Die LUST liest schließlich nicht jede/r.
In diesem Sinne wünsche ich Euch im Namen der anderen Lüstlinge schöne warme Ostertage und viele kraftraubende Erlebnisse, Euer
Joachim von der LUST