- Grußwort zur 70. LUST
Die politische Diskussion in der Bundesrepublik unterliegt dem
Versuch der Unionsparteien, polarisiernde Themen für den
Endspurt zur Bundestagswahl hochzupuschen. Die ist freilich erst
am 22. September und da kann uns noch so Einiges blühen.
Nach dem Koch-Rezept in Hessen, wo die Ausländerfeindschaft
zum Wahlkampfmotor der Union und zur politischen Wende zugunsten
der Union wurde, versuchten die Unionsparteien nun schon wieder
das Ausländerthema zu nutzen, und zwar für die Bundestagswahl.
Vorausgegangen waren taktische Spielchen mit immer weitergehenden
Forderungen, um die Zustimmung zum Gesetz zu geben. Forderungen,
die so weitgehend waren, dass die rotgrüne Regierung dies
nicht billigen konnte und sowohl Frau Süßmut und auch
der saarländische Ministerpräsident sie selbst nicht
für gut hielten.
Vorbereitet hatte man sich aber
auch auf den Fall, dass Brandenburg, vertreten durch den Ministerpräsidenten,
zustimmen würde. Für diesen Fall wurde ein Szenario
inszeniert, das dann ja letztlich abgespielt wurde.Und nun wurde
so getan, als ob eine Verfassungskrise stattfinden würde,
als der Bundesratspräsident das Votum des Ministerpräsidenten
akzeptierte. Als vor einigen Monaten in Mecklenburg-Vorpommern
der Ministerpräsident im Bundesrat gegen den Willen seines
PDS-Koalitionspartners für das neue Rentengesetz stimmte,
sah die Union den Verfassungsnotstand nicht, sondern hielt dies
für normal. Wir überhören nicht die antischwulen
Anspielungen gegen den Bundesratspräsidenten und werden
sie auch nicht vergessen.
Es kann uns nicht egal sein, wenn im Wahlkampf mit schmutzigen
Tricks und Minderheitenhetze gearbeitet wird, denn die Auswirkungen
davon werden auch wir zu tragen haben.
Zu einem anderen Thema: Ein Wunder ist geschehen.Marcel Reich-Ranicki
lobte in seiner neuen Sendung ein Buch von Günther Grass.
Sonst lobte er doch immer nur ehemals linke Literaten, die nach
rechts übergelaufen oder zumindest in bürgerliche Lager
heimkehrten. Und Grass war ja immer ein rotes Tuch für ihn.
Ist Grass auch "heimgekehrt"? Hermann L. Gremliza schreibt
ja in seiner Kolumne in der Konkret März/02 "Ein Hitlerjunge
kehrt heim". Er erhebt den Vorwurf, dass hier ganz bestimmte
Gefühle der Deutschen bedient würden.
Grass selbst äußert sich so, dass er das Thema des
Leidens der Vertriebenen nicht den Nazis überlassen möchte.
Natürlich, meine ich, haben auch Deutsche unter dem Nazistaat
gelitten, unter dem Krieg und den Folgen des größenwahnsinnigen
Angriffskrieges. Und das, meine ich ist die richtige Sichtweise
der Ereignisse. Die Vertreibung war eine unmittelbare Folge der
nazidiktatur und des Nazi-Angriffskrieges. Auch deshalb schreibe
ich seit Jahren, dass die Katastrophe für Deutschland nicht
der verlorene Krieg, sondern die Machtergreifung der Nazis war.
Reixch-Ranicki meinte in der oben angesprochenen Sendung noch,
dass das Leiden von einigen tausend Deutschen auf dem Flüchtlingsschiff
zwar groß sie, aber nicht mit dem Leiden von 6 Millionen
Juden aufgerechnet werden könne, und rechnet damit auf.
Das ist noch kein seröser Umgang mit diesem Thema. Natürlich
haben Deutsche gelitten, manche als Opfer, andere auch als Täter.
Leiden kann man immer nachfühlen oder nachfühlbar schildern.
In der nächsten Ausgabe der LUST werde ich das Buch vorstellen
und den Umgang mit dem Thema, der schiefzulaufen droht.
Da treffen in der Johannes-Kerner-Show Hella von Sinnen und Domian
aufeinander, zwei Ikonen des lesbisch-schwulen Showgeschäftes.
Und Domian lobt das neue Buch von Grass. Er meint, man sehe mitfühlend
sehr zu recht die Seite der Opfer der Deutschen. Man müsse
auch die andere Seite sehen. Was ist die andere Seite? Die Seite
der deutschen Täter? Mitfühlend? Diese Diskussion läuft
schief, wenn sie so geführt wird. Und er sagt, früher
sei er Kriegsgegner gewesen, heute würde er zur Bundeswehr
gehen. Hella meint nun, dass müssten sie noch untereinder
ausdiskutieren. Und dass er stolz auf "unsere Jungs"
sei, redet er weiter, die überall für uns den Kopf
hinhalten würden. Das Publikum applaudiert, Hella überspielt
und geht zu einem anderen Thema.
Es scheint so zu sein, dass schleichend sogenannte patriotische
Gesinnung um sich greift, dass die Schwulen (Na ja, nicht alle)
heim in die Arme des Vaterlandes strömen, nachdem der §
175 StGB nicht mehr existiert und man uns nicht mehr umbringen
möchte. Es scheint aber auch, dass sich nur noch einige
Lesben schwer damit tun. Dies ist tatsächlich nur mit dieser
Regierung möglich geworden, die wir im Moment haben. Aber
ob das etwas mit Grass und seinem Buch zu tun hat? In der nächsten
LUST jedenfalls wird es auch darum gehen.
Dass die LUST nun dreimonatlich erscheint, tut uns gut. Wir haben
die Möglichkeit, besser zu rescherchieren und unsere LUST-Arbeit
neben der berufstätigkeit besser zu koordinieren. Ihr seht
es an dieser Ausgabe, dass unsere Arbeit nun auf einer solidereren
Grundlage steht. das ist inhaltlich gemeint und nicht wirtschaftlich,
denn noch müssen wir privat Geld zuschießen, da die
Auflage derzeit offensichtlich nicht zu erhöhen ist. Es
scheint so, dass es in unserer Szene eben nur wenige Menschen
gibt, die sich mit inhaltlichen Fragen auseinandersetzen wollen.
Die "wenigen" Menschen aber, die dies tun, sind ja
die wichtigsten Menschen unserer Szene. Wer denn sonst kann für
die Zukunft unserer Szene Weichen stellen? Für die engagierten
Lesben und Schwulen schreiben wir also, verbringen wir unser
Zeit und geben wir unser Geld aus. Was uns fehlt, sind MitarbeiterInnen,
die am Artikel-Produzieren teilnehmen wollen und uns auch im
Vertrieb helfen wollen.
Liebe Freundinnen und Freunde der LUST, wir wünschen Euch
schöne warme Tage und heiße Erlebnisse. Im Auftrag
der gesamten Lüstlinge, Euer
Joachim von der LUST