101. Print-Ausgabe, Winter-LUST 09/10
 
2. Besonderheiten
Wir laufen gerne auch über die Buchmesse, um auch das eine oder andere in vorhandene Schubladen nicht einzuordnende Besondere zu entdecken.
 
2.1. Bemerkenswerte Besonderheiten
Überhauptnichts mit unserer Szene zu tun haben die folgenden Bücher, von denen einige uns doch recht bemerkenswert vorkamen. Selbstverständlich betrifft uns vieles auch gerade deshalb, weil es nichts mit unserer Szene und unserem Lebensstil zu tun hat.
 
Uns Lesben und Schwulen bleibt ja ohnehin nichts anderes übrig, als in unsere Szene zu fliehen, um uns von dem bornierten Hetero-Sexismus zu erholen, und aus unserer Szene zu fliehen, um die Enge der Themen zu verlassen, die sich in der Nische einer Subkultur zwangsläufig ergibt. Eine Subkultur ist eben keine Gegenkultur.

Und auch wenn sich unsere Subkulturen in aller Welt finden, sofern man dort unsere Leute nicht verfolgt oder umbringt, ist es doch sehr angenehm, uns der Welt zu öffnen.
 
Das Dorf des Deutschen
„oder das Tagebuch der Brüder Schiller”, Roman von Boualem Sansal, aus dem Französischen übertragen von Ulrich Ziegler, erschienen im Merlin Verlag Leinen, 360 Seiten zu 22,90 Euro, ISBN 978-3-87536-270-1

„Das Dorf des Deutschen” verbindet die Tabuisierung des Holocausts in der arabischen Welt mit dem Versagen der europäischen Integrationspolitik.

„Das Dorf des Deutschen” ist die Geschichte von Hans Schiller und seinen Söhnen Malrich und Rachel. Die beiden Brüder wuchsen fernab der Eltern – die in Algerien in einem kleinen Dorf lebten – in der Pariser Banlieu auf. Die Brüder sind in Frankreich geblieben. Rachel hat Karriere gemacht: er hat einen guten Job, ein kleines Häuschen, ein Auto, eine Frau – und die französische Staatsbürgerschaft.
 
Sein 20 Jahre jüngerer Bruder Malrich steht dagegen am Rande der Gesellschaft: ohne Ausbildung und ohne Job lebt er perspektivenlos als Mitglied seiner multikulturellen Clique in der Vorstadt.

Als die Eltern der beiden im fernen Algerien bei einem Attentat der Islamisten umgebracht werden, gerät das Leben der Brüder aus dem Lot. Plötzlich werden sie mit der Tatsache konfrontiert, dass sich ihr Vater als ranghoher Nazi bei der SS in den Vernichtungslagern schuldig gemacht hat.

„Boualem Sansal attackiert algerische Tabus mit einer Heftigkeit, die einen um den Autor bangen lässt ... Das Dorf des Deutschen’ erweist sich als eine Metapher, die sehr weit trägt.” Johannes Willms, Süddeutsche Zeitung
 
Zukunft! Zukunft?
Tübinger Poetik Vorlesung, herausgegeben von Jürgen Wertheimer mit Beiträgen internationaler Autorinnen, u.a. auch der Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller, erschienen im Konkursbuchverlag Claudia Gehrke200 Seiten, mit farbigen Abbildungen von Alissa Walser und Herta Müller, gebunden, Eur 12,-, ISBN 978-3-88769-153-0

Acht berühmte Schriftstellerinnen schildern in eindringlichen literarischen oder essayistischen Texten, was die Erfahrung ‚Zeit‘ mit ihrem Denken, Fühlen, Schreiben zu tun hat. Es zeigt sich eindrucksvoll, wie die Dimensionen der Zeit ineinandergreifen, dass sich Vergangenheit und Zukunft nicht trennen lassen. Kleine Momente und Gegenstände stellen eine Verbindung her. Texte von Herta Müller, Batya Gur, Barbara Honigmann, Dubravka Ugresic, Alissa Walser, Yoko Tawada u.a.

Herta Müller nimmt uns in diesem Buch auf eine atemberaubende Zeitreise mit - von ihrer Großmutter, die ein Nachthemd stickt, zu einem Werbeplaket der Bundesbahn zur Todesangst im Nachtzug in Rumänien zur Zukunft, die immer bald Vergangenheit wird. Außerdem gibt es eine Serie ihrer fantastisch kompo-niertenText-Bild-Collagen.

Pressestimme: „Was passt besser zu Neujahr als eine Textsammlung über die Zukunft. Jürgen Wertheimer hat die Vorträge der Tübinger Poetikvorlesung „Zukunft! Zukunft?“ als hochinteressanten Essayband herausgegeben. Erzählt und philosophiert, etwa über das individuelle Zeitgefühl des Menschen, haben darin renommierte Autorinnen wie Batya Gur, Yoko Tawada, Alissa Walser und Barbara Honigmann.
 
Stellvertretend für viele schreibt etwa Herta Müller: „Ich bin bis heute beschämt, wie wenig ich an jeder Gegenwart das Gepäck erkannt habe, das sie mir, sobald sie vergangen war, mitgegeben hat für die Zukunft.“ (Abendzeitung)

Von der freiwilligen Knechtschaft
von Étienne de La Boétie (1577), Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Ulrich Klemm, begleitet durch ein Essay von Siegbert Wolf zu Gustav Landauers La Boétie-Rezeption, Übersetzt von Gustav Landauer 92 Seiten, kartoniert, Euro 10.- ISBN 3-86569-903-0 Trotzdem bei Alibri

Die kleine Schrift aus dem 16. Jahrhundert Discours de la servitude volontaire, verfasst von dem französischen Renaissance-Humanisten Étienne de La Boétie, gilt heute als wegweisender Meilenstein in der Entwicklung und Formulierung des europäischen Freiheitsgedankens und der politischen Ideenbildung.

Anfang des 20. Jahrhundert durch Gustav Landauer wieder entdeckt, stellte er La Boéties Herrschaftsanalyse, dessen Darlegung gewaltsamer Unterdrückung und freiwilliger Unterwerfung, in eine Reihe mit dem, was in anderen Sprachen später Godwin und Stirner, Proudhon, Bakunin und Tolstoi aufnehmen werden.

La Boéties Freiwillige Knechtschaft ist ein demokratischer Urtext des Abendlandes und hat die Neuzeit mit den Leitideen Partizipation, Gleichheit und Gerechtigkeit eingeläutet. Sowohl in der politischen Philosophie als auch in demokratischen und bürgerschaftlichen Bewegungen wird der Text bis heute rezipiert.

Étienne de La Boétie(1530-1563), französischer Schriftsteller und Freund Montaignes, verfasste neben seinem Discours de la servitude volontaire, der erstmals 13 Jahre nach seinem Tode erschien, zahlreiche Sonetten und Latein-Verse und übersetzte Xenophon und Plutarch.

Als Katholik und Rechtsanwalt, später Mitglied des Parlaments von Bordeaux, nahm er im Verlauf der damaligen Religionskriege an diversen Verhandlungen zwischen Protestanten und Katholiken teil und wurde zu einer Stimme für Toleranz in den Zeiten der Inquisition.
 
Das ABC des fortgeschrittenen Halbwissens
von Karsten Niggemeier, erschienen im Kulturmaschinen Verlag, 110 Seiten zu 10,80 Euro ISBN: 978-3-940274-1-44

Was wäre Maggi ohne die Mongolen? Was verbirgt sich hinter der zweifelhaften Kraft der Entschleunigung? Wie nahe liegen Genie und Wahnsinn beieinander?

Karsten Niggemeier bringt Ihnen auf charmante Weise das Halbwissen nahe, welches Sie dringend benötigen um bei Kollegen, Schwiegereltern oder dem oder der Angebeteten zu punkten. Langweilig wird es dabei nicht.

Karsten Niggemeier ist nicht nur Werbetexter, sondern insbesondere einer jener Autoren, die es verstehen mit wohlgesetzten Worten dem Leser die Welt der Dinge nahe zu bringen. Entspannt im Bahnabteil oder dem heimischen Ohrensessel liest sich das „ABC des fortgeschrittenen Halbwissens“ ebenso kurzweilig, wie spannend.
 
Der Geruch der Stille
von Barbara Gresslehner, erschienen im Kulturmaschinen Verlag, 144 Seiten zu 12,80 Euro, ISBN: 978-3-940274-03-8

Die 23-jährige Autorin Barbara Gresslehner scheibt, dass man lesesüchtig werden kann, und sie tut es auf hohem sprachlichem Niveau. Dabei enthält sie sich allen modischen Gefühlsduseleien ebenso, wie postmodernen Sprachmystik und semantischer Gymnastik. Ihre Sprache ist klar und die Erzählstruktur durchdacht.

“Der Geruch der Stille” enthält 21 Kurzgeschichten - und die haben es in sich. Klaviere fallen aus Fenstern, die Ich-Erzählerin begeht einen Lustmord und die berühmte “O” stirbt langsam vor sich hin. Was schlechter Sex an interessanten Erkenntnissen bringen kann, erfährt der Leser ebenso, wie er in die Welt einer Geisteskranken gezogen wird. Niemals sind die Geschichten konventionell oder profan. Mit einer grandiosen Wortgewalt nähert sich Barbara Gresslehner sowohl der Erotik, als auch dem Romantischen. Jede Geschichte hat Wendungen. Langeweile kommt niemals auf. Hier macht eine vielversprechende junge Autorin mit Verve auf sich aufmerksam.
 
Ist besser, verdorben zu sein ...
21 Sonette von Shakespeare, erschienen im Kulturmaschinen Verlag 68 Seiten zu 12,80 Euro, ISBN: 978-3-940274-05-2

Sukov verwirft jede Festlegung von Shakespeare auf Heterosexualität. Er hält ihn für bisexuell, kann es aber nicht beweisen. Doch die Indizien sind vielfältig. Dass er auch hier und da eine Prise Sadomasochismus vermute verwundert nicht.

Das Buch wird ergänzt durch ein wunderbares Essay um den Streit über eine Homosexualität von Shakespeare.

Autor des Essays ist der bekannte Literaturwissenschaftler Dr. Rictor Norton.Bebildert wurde das Buch durch Julia Theveßen, deren Zeichnungen so ambivalent sind, wie Shakespeares Sonette und Sukovs Übertragungen.
 
Der Feuerstuhl
„und die Fährtensucher Rolf Recknagel, Erich Wollenberg und Anna Seghers auf den Spuren B. Travens”, herausgegeben von Bernd Kramer und Christoph Ludszuweit, erschienen im Karin Kramer Verlag.

192 Seiten, zahlreiche Abbildungen (französische Broschur) zu 20,00 Euron, ISBN 3-87956-266-0
B. Traven, der bekannteste sozialkritische Schriftsteller der 20er Jahre, steht im Mittelpunkt bisher unveröffentlichter Briefe mit Erich Wollenberg, Anna Seghers und der Tochter B. Travens, Irene Zielke. - Recknagel, der „Papst“ der Travenforschung, versucht zu beweisen, daß B. Traven dem deutschen Kaiserhaus entstammt - als illegitimes Kind.
 
Wollenberg kannte Traven aus der Zeit der Münchner Räterepublik 1919, an der beide teilgenommen hatten. Alle Autoren beschäftigen sich auch mit dem Feuerstuhl: In B. Travens Buch Regierung müssen sich diejenigen, die ein öffentliches Amt übernehmen wollen, der Feuerstuhlprobe unterziehen: Sie sitzen auf einem Stuhl unter dem ein Feuer entfacht wird... Wer durchhält, wird gewählt - für ein Jahr; danach wird die Feuerprobe wiederholt.

Mit einer CD: postproletarischer sänger- und studentenrat singt: Lied eines amerikanischen Seemanns, Thomas Kapielski liest: Oskar Maria Graf: ...oje, oje ... postproletarischer sänger- und studen-tenrat singt: Das Tanzlied des Totenschiffes B. Traven: spricht und singt.
 
2.2. Grenzwertige Besonderheiten
Bei manchen Besonderheiten, über die ich bei der Buchmesse gestolpert bin, bin ich nicht sicher, ob ich sie auch sehen wollte. Aber so ist das eben, wenn man so etwas nicht sehen will, schaut man dennoch ganz genau hin.

Sollte irgendjemand bei Büchern eine Grenze ziehen und sagen: Das geht aber nicht! Aber wer sollte das sein? Und wo sollte die Grenze sein?
 
SMIgel reloudet
“Tierische BDSM-Cartoons” von Fuchskind, erschienen im Kulturmaschinen-Verlag. Es handelt sich um heterosexuelle SM-Comics, die dadurch „verniedlicht sind, dass es sich unter Tieren abspielt. Fast immer sind es die weiblichen „Tierchen“, die den Maso-Part spielen.
Ca. 80 Seiten zu 14,80 Euro, ISBN: 978-3-940274-1-37

„Die Wahrheit über die Tierwelt! Die durch allerlei harmlose Fabeln genährte Illusion, im Tierreich ginge es moralisch einwandfrei zu, ist völlig falsch. Fuchkind deckt die Wahrheit auf: Laster und Lüsternheit allenthalben, so stellt sich das Leben von Igeln, Hasen, Maulwürfen und anderem Tierzeug dar. Wer sein Haustier schon einmal dabei beobachtet hat, wie es den Kühlschrank aufmacht um die Steaks zu entwenden, weiß: Die Viecher sind findig. Und so ist es kein Wunder, dass sie auch die Natur intelligent nutzen.

Fabelhafte Fabelwesen zeichnet uns Fuchskind. Dabei hält sie uns keinen Spiegel vor. Wenn ihre rasierten oder stacheligen Igel, ihre geilen Maulwürfe oder Ropebunnys uns irgendwie bekannt vorkommen, so das nichts mit einem Spiegelbild zu tun. Das ist eben die Natur!“

Ich fraß die weiße Chinesin
„Ein Menschenfresserroman” von Duca di Centigloria, erschienen im Merlin Verlag. 143 S. Pappbd. EUR 9,20 ISBN 3-926112-41-7

„Ich berichte Ihnen nun, wie mein Blut in Ysas Adern hinüberfloß. Noch jetzt fühle ich manchmal ein leichtes Brennen in der linken Armbeuge. Dann steigt aus der Tiefe des in meinen Adern pulsenden Blutes vor mir ihr Bild empor; Ysabel, die ich die „Weiße Chinesin‘ nannte, denn sie war als Tochter eines schwedischen Diplomaten in Peking geboren worden, hatte ihre Mädchenjahre in Shanghai und in Hongkong verbracht und war mit gleichaltrigen chinesischen Mädchen der besten Familien aufgewachsen und mit ihnen zur Schule gegangen.
 
Bewußt im Gegensatz zu den meisten Europäern lebte sie dann später „zwischen den Rassen‘. Und oft, so sagte sie mir einmal, wußte sie selbst nicht mehr, ob sie weiß oder gelb war.“ Rosa von Praunheim nennt dies ein kannibalistisches Kochbuch.
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