- 82. LUST, Frühling 05
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- Unsere Körperwelten
- Der unvollkommene Mensch
Der menschliche Körper wird zumeist
mit Stoffen und anderen Gegenständen zusammen abgebildet,
also: bekleidet. Sogenannte Akt-Darstellungen als Skulpturen,
als Bilder oder Fotoarbeiten, also die Darstellung des nackten
Körpers, hat wegen der Erziehung zur Scheu vor dem nackten
Körper etwas Lusterzeugendes, also demnach etwas Anrüchiges.
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- Die Verklärung und Verkleidung des menschlichen
Körpers führt dazu, dass ein realistisch Bild des nackten
menschlichen Körpers in der Bevölkerung gar nicht vorhanden
ist. Nur erotische Leitbilder, die Darstellung menschlicher körperlicher
Schönheit war (oder ist) ein Grund, Nacktheit zu zeigen.
Da ist es nicht verwunderlich, dass die erotische Sehnsucht auf
die dargestellten Leitbilder und nicht auf Menschen, wie sie
sind, gelenkt wird.
Heutzutage wird die angebliche erotische Attraktivität durch
Silikon und andere Kunstgriffe derart übertrieben dargestellt,
dass kaum ein Mensch diesen erotischen Leitbildern entspricht,
was zur erotischen Diskriminierung aller der führt, die
dem Leitbild nicht im entferntesten entsprechen. Und so kann
eine ganze Industrie davon leben, dass Menschen eben erotisch
attraktiv sein möchten, was bedeutet, dass sie sich den
Leitbildern anpassen.
In der 78. LUST begannen wir mit der Serie Unsere Körperwelten.
Wir beschäftigten uns hier zum Beispiel auch mit der Darstellung
des Gesichtes, als ausdrucksstärksten Bereich des menschlichen
Körpers. Das Gesicht ist der Seismograph der Anerkennung
menschlicher Individualität. Und dort macht es ein Unterschied,
ob die Gesichtsabbildungen Leitbilder sind oder die menschliche
Individualität tatsächlich wiedergeben.
In der 79. LUST beschäftigten wir uns mit kulturgeschichtlichen
Erwägungen in Hinblick auf die Lust der Frau am Knaben.
In der 80. LUST beschäftigten wir uns mit dem Bild des Mannes
als
Ausdruck seiner gesellschaftlichen
Funktion. In dieser 82. LUST nun geht es um die Vervollkommnung
des menschlichen Körpers in Richtung auf gesellschaftlich
erwünschte Leitbilder.
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- 1. Die Abbildung des Schönen
Leni Riefenstahl in ihren Filmen und später Fotobildbänden
hat die Abbildung des Gesunden und Schönen inszeniert
und dies auch damit begründet, dass dies nicht ideologisch
sei, also faschistisch, sondern aus der Liebe zum Schönen
begründet sei. Das Kranke, Hässliche und Entartete,
das sollte nicht abgebildet werden. Die Nazis wollten in der
Kunst weniger Realitäten, sondern Leitbilder. Die Weiblichkeit
der Frauen sollte besonders herausgestellt werden und die Männlichkeit
der Männer. Und was ist Männlichkeit und Weiblichkeit?
Vieles davon wird noch heute nicht infrage gestellt und für
selbstverständlich gehalten. Auch in unserer Szene, die
es besser wissen müsste, bekommt man die Frage gestellt:
Willst Du denn nicht lieber das Schöne und Normale
sehen statt das Hässliche und Kranke?
Und was ist normal? Argumente mit der angeblichen
Normalität kann man auch heute noch immer zu hören
bekommen. Normalität steht als das Gegenteil von krankhaft.
Und krankhaft sind alle Erscheinungsformen, die nicht dem
Leitbild der Männlichkeit und Weiblichkeit und des Wahren
Guten Schönen entsprechen. So ist das eben.
Und was ist mit all den Menschen, die nicht den Leitbildern entsprechen,
die noch nicht mal der Normalität des Menschen
entsprechen? Diese Menschen gelten als entartet. Und das trifft
besonders die Menschen, die heute als Behinderte
bezeichnet werden, die man Früher als Idioten oder Schwachsinnige
benannte, als Krüppel oder Aussätzige. Kaum jemand
möchte daran denken, dass auch ihn im Alter eine oder mehrere
Behinderungen einholen werden. Überhaupt möchte man
an das Alter nicht denken.

In der Nazizeit wurde das massenhafte Ermorden behinderter Menschen
in den Hetzfilmen mit den finanziellen Aufwendungen gerechtfertigt,
die Behinderte der Gesellschaft kosten würden. Dann wurde
von einem erbgesunden Volk geredet, also von der
Züchtung des Menschen zugunsten der Anforderung der Wirtschaft.
Nazi-Argumente werden noch heute vertreten, allerdings mit zeitgemäßeren
Argumenten.
Was sind Behinderte? Es sind dies schlicht Menschen, die aufgrund
ihrer körperlichen oder geistigen Konstitution irgendwelche
Fähigkeiten, über die Menschen zumeist verfügen,
nicht im gleichen Maße haben. Dass nicht alle Menschen
über alle erwarteten Fähigkeiten verfügen, ist
ja ganz natürlich, bisweilen aber auch durch chemische oder
andere Einwirkungen verursacht, wie zum Beispiel durch das Medikament
Contergan.

Genau wie es Menschen gibt, die bestimmte Fähigkeiten nicht
haben, gibt es auch Menschen, die bestimmte Fähigkeiten
besonders reichlich haben. Und dann gibt es Fähigkeiten,
die Menschen haben, mit denen die Gesellschaft nichts anfangen
kann oder will. Menschen sind unterschiedlich, und das ist auch
gut so. Und das Unterschiedliche, nicht das Angepasste, ist die
Normalität der Menschen.
Und wenn eine gesellschaftlich beziehungsweise wirtschaftlich
eingeforderte Eigenschaft von manchen Menschen nicht ausreichend
vorhanden sind, gibt es heute vielfach technische Ergänzungen
des Menschen, die das ausgleichen können. Und das kann man
auch in den Bereichen fördern, die zu den privaten Bereichen
der Menschen gehören.

Überhaupt wird ja wirtschaftlich vom Menschen Unmenschliches
verlangt, und durch die Steigerung der Produktivität, wird
der Mensch vielfach zum Anhängsel der technischen Netzwerke,
die ihm angeblich helfen sollten. In Wirklichkeit helfen sie
dem Gewinn. Die Hände des früheren Grubenarbeiters
wurden durch riesige Baggerschaufeln vergrößert, das
Gehirn des Wissenschaftlers durch vielfältige Computerprogramme
aufgerüstet.
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- 2. Der imperfekte Mensch
mit dem Untertitel: vom Recht auf Unvollkommenheit
hieß eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin vom
16. März bis zum 02.05.02. Die Ausstellung wurde von der
Stiftung Deutsches Hygiene-Museum und der Deutschen Behindertenhilfe
Aktion Mensch e. V. durchgeführt.
Jeder Mensch ist (im)perfekt- das ist mehr
als die bloße Erkenntnis, dass niemand perfekt und
jeder unvollkommen sei. Vo, (im)perfkt-Sein
zu sprechen, heißt anzuerkennen, dass menschcen mit Kategorien
wie perfekt oder defekt nicht zu fassen
sind. Ungeachtet dessen hat die Vorstellung von der Perfektibilität
des Menschen des Menschen eine lange Tradition.
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- So eröffnet der Ausstellungstitel auch
eine zeitliche Dimension: Die stets präsente aber nie erreichbare
Utopie des perfekten Menschen zielt immer zugleich
auf die Überwindung des alten
Menschen,
der als Mängelwesen wahrgenommen wird. Dieter Mattner
führt uns im Aufsatz Die Erfindung der Normalität
durch die Geschichte des Umgangs mit Menschen, die für nicht
normal gehalten wurden und durch die verschiedenen Normalitätsbegriffe.
Ist Normalität ein fiktives Leitbild, dem nachzustreben
ist, oder schlicht das Verhalten der Mehrheit, was Minderheiten
entstehen lässt? Er beschreibt den biologistisch inspirierten
Normalitätsbegriff, den Konstitutionsprozess rationaler
Subjektivität, das sozialdarwinistische Normalitätsideal,
den nationalsozialistischen Protonormalismus der arischen Rasse.
- Es geht um den humangenetisch verkleideten
Mythos der Normalität und er fordert eine auf das Mensch-Sein
verpflichtete Ethik ein. Zur Geschichte der Emanzipationsbewegung
behinderter Menschen wird Andreas Jürgens aus Kassel befragt.
In einer Fallstudie am Beispiel der Klinik Hephata, die als Heil-
und Pflegeanstalt für bödsinnige Kinder Rheinlands
und Westphalen gegründet wurde. Die Fallstudie heißt
Integration, Emanzipation und Rehabilitation. Vom Anfang
und Ende des Lebens heißt ein Aufsatz von Dietmar
Mieth, der sich mit den Kriterien des menschlichen Lebens unter
einer ethischen Perspektive beschäftigt. Die Spanne der
Beiträge reicht über Behindertensport bis zur Frage
der Seiteneinsteige in der Kunst.
Die Abbildungen im Ausstellungskatalog zeigen keine Körper
behinderter Menschen, sondern sie zeigen Utensilien und
Gegenstände, mit denen unterschiedlich
behinderten Menschen bisweilen geholfen wurde, so wie man es
eben verstand, mit denen sie aber auch gefangen gehalten und
gequält wurden.
Hat das alles etwas mit unserem Thema Unsere Körperwelten
zu tun? Wir denken das schon, denn der menschliche Körper,
wenn man ihn abbilden möchte, sollte das Mensch-Sein erfassen.
Und der Mensch, wie er real ist, gehört eben zum Mensch-Sein.
3. Norm: Männlicher Mann und weibliche
Frau
Menschen, die an den Gesellschaft leiden, weil von ihnen geschlechtlich
zugeordnete Verhaltenswesen erwartet werden, die ihnen nicht
gemäß sind, möchten ihr Geschlecht angeglichen
haben, also körperlich als Mann ausgestattete Menschen,
die sich in der Männerrolle und demzufolge im Männerkörper
nicht wohlfühlen, lassen sich operativ zur körperlichen
Frau verändern. Oder Menschen, die körperlich weiblich
sind, die sich aber in der gesellschaftlich geprägten Frauenrolle
und dem weiblichen Körper nicht wohlfühlen, lassen
sich operativ dem Körper des Mannes angleichen.
- 3.1. Geschlechterwechsel oder Geschlechtsangleichung?
Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch hat in seinem 1992
erschienenen Buch Geschlechterwechsel (KleinVerlag)
das Problem angesprochen, dass der Wunsch, den Körper zu
verändern möglicherweise daher stammt, dass die Gesellschaft
die Polarisierung der Geschlechter zur Normalität gemacht
hat. Bisher haben wir uns mit Freud die Verknüpfung
von körperlichem Geschlecht und seelischer Geschlechtsidentität
als eine zu innige vorgestellt. Es schien uns immer wieder, als
bringe der Körper die Geschlechtsidentität mit wie
eine Mitgift. Durch die Tatsache des Transsexualismus und durch
die Zunahme des allgemeinen Unbehagens am Geschlecht sind wir
gehalten, die Verknüpfung von Körpergeschlecht und
Identität in unseren Gedanken noch stärker zu lockern.
Eine große Hilfe ist dabei der kulturelle Feminismus.
Sigusch vergleicht den Umgang mit dem Transsexualismus mit dem
Umgang mit der Homosexualität und beklagt, dass man nach
Ursachen suche, um Transsexualismus und Homosexualität zu
verhindern, statt ihre Existenz zu akzeptieren und die gesellschaftlichen
Leitbilder infrage zu stellen. Das Verrückte am Transsexualismus
ist, dass die Transsexuellen nicht verrückt sind. Ihre seelische
Verfasstheit ist kein Irrtum der Natur, sondern ein
Kunstwerk des Menschen. Als durchweg psychotisch
erscheinen sie nur dem flüchtigen und mürrischen noso-morphen
Blick ... Dass der Transsexualismus im Laufe der Jahre beinahe
allen bereitstehenden Krankheitseinheiten mehr oder weniger bündig
zugeordnet worden ist Psychosen, Neurosen, Borderline-Strukturen,
Fetischismus, Masochismus, Homosexualität, Intersexualismus
usw. -, zeigt dreierlei: die Ratlosigkeit der Untersucher, die
Abhängigkeit des nosomorphen Blicks vom spezifischen Blick
des jeweiligen Experten und die Vielfältigkeit des sogenannten
Transsexualismus. (a.a.O. S. 117 f)

Bevor hier etwas falsch verstanden wird: Homosexualität
wurde zeitweilig als Krankheit angesehen, und Transsexualismus
ordnete man der Homosexualität zu, wofür es ja immerhin
nach den Auffassungen von Magnus Hirschfeld bezüglich des
Dritten Geschlechtes Gründe zu geben schien.
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- 3.2. The Gender Frontier
ein Bildband mit Arbeiten von Mariette Patheny Allen, erschienen
2003 im Kehrer Verlag Heidelberg. Es ist dies aber nicht nur
ein Fotobildband, sondern hier finden sich auch Textbeiträge
von Grady T. Turner, Riki Wilchins, Jamison Green und Dr. Milton
Diamont.
- In der Einfühung schreibt Mariette Pathy
Allen: Wenn ich außerhalb der Transgender Community
meine Arbeit zeige, dann will mein Publikum, dass ich die kategorien
definiere und erkläre, wer was ist und wie die Körper
der Transgender funktionieren. Was mich hingegen interessiert,
sind Frgen wie diese: Wie würdest Du auf dieses Bild reagieren,
wenn ich Dir sagte, das ist ein Mann, und das ist eine Frau?
Wie wirkt sich das auf Dein Selbstbild aus? Wandelt sich Deine
Identität, wenn dein Partner sich wandelt? Identität
ist überhaupt eine große Rätselfrage: Worin besteht
der mysteröse Kern eines Menschen?
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- Von besonderer Brisanz ist die Frage für
diejenigen, die nicht glauben, dass ihr Körper ihr inneres
Wesen wiederspiegelt. Was ändert sich und was bleibt gleich,
wenn ein Mensch sein Geschlecht wechselt? Und wie werden diese
Veränderungen von seinem sozialen Umfeld wahrgenommen?
(S. 11) In einem historischen Abriss der Transgender-Gemeinde
in den USA schreibt sie:
-
- Die Beziehung zwischen Körper
und Psyche ist ein Rätsel von zunehmender sexueller Brisanz.
Neu ist die Art und Weise, wie wir darüber sprechen. Kinsey
sah die sexuelle Orientierung (die Wahl des geschlechtlichen
Partners) als Kontinuum zwischen hetero- bis homosexuell. Gender
ist ein Kontinuum, das zwischen Männlichkeit, Transgender
und Weiblichkeit fließt. Mitte der 90er Jahren trat ein
weiteres, mit der Biologie selbst verbundenes Kontinuum aus dem
verschämten und geheimen ans Licht. Der Mensch ist nicht
einfach nur männlich oder weiblich. Cheryl Chase, Gründerin
der Intersex Sociaty of North America, tritt für die Rechte
der fünf Kinder ein, die täglich in den USA als Intersexuelle
(mit nicht eindeutig zuzuordnende Genitalien) geboren werden.
Sie
fordert, dass die Chirurgen aufhören,
diese Kinder zu verstümmeln um sie normal zu machen. Biologen,
Psychiater und andere Akademiker haben sich dieser Forderung
angeschlossen, und Ärzte, die diese Operationen ausführen,
sind in der Defensive. Schon die nackte Definition männlich/weiblich
ist strittig: Soll das Geschlecht sich nach den Genitalien richten,
den Hormonen, den Chromosomen, nach allem dreien oder nach etwas
anderem? Ist die Mann-Frau-Zweiteilung als Raster zu grob geworden,
ist sie noch sinnvoll, noch brauchbar? (S. 13)
- Die Autorin beschriebt in ihrem Beitrag auch,
dass in den USA heutzutage monatlichein Transgender umgebracht
wird, wie Körperlich angepasste Menschen Verfolgung ausgesetzt
sind und ihren Arbeitsplatz verlieren, wie sich ihr Leben durch
den zunehmenden evangelikalen Vormarsch verschlechtert. Wir erfahren
auch vom mutigen und zähen Kampf von Transgender-Organisationen,
von Erfolgen, Fehlschlägen und Verurteilungen. Das unverstellte
Bild des Menschens, nicht als Leitbild, sondern so, wie er ist,
weckt natürlich anfänglich Neugier und Voyeurismus.
Aber das ist ein Preis der Aufklärung.
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- 4. Body Extension
hieß eine Ausstellung im Züricher Museum Bellerive
seit April 2004. Sie war dann noch bis Ende Januar 2005 im mudac
in Lausanne zu sehen. Der Ausstellungskatalog Body Extensions
- Wie wir den Körper erweitern, zeigt Exponate unterschiedlicher
KünstlerInnen zu diesem Thema.
Hier wird mit kritischer Distanz das gezeigt und Beschrieben,
was über den reinen Kult am Körperlichen hinaus so
alles gemacht wird, um in einem neuen Körperkult den Leitbildern
zu gefallen. Es nimmt dabei Schönheitschirurgie, reale Cyborgs,
ebenso wie fiktive Superhelden unter die Lupe. Die Bilder und
Texte spüren dem Verlangen des Menschen nach, vollkommen
zu sein, während sie doch nur bestimmte Eigenschaften, dem
Zweck entsprechend, überzeichnen. Sie zeigen wie weit Menschen
für ihre Body Extensions gehen, was sie ihnen
und der Gesellschaft bedeuten sowie die Wege und Möglichkeiten
diese zu erlangen. Hybride Ausdehnungen des Medialen und
des Körpers stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen.
Auch setzen sich einzelne KünstlerInnen in Wir Cyborgs
mit Body Extensions in Kultur und Alltag auseinander.
-
- Die Darstellung medizinisch notwendiger und
Aufrüstung medizinisch unnötiger Body Extensions zeigt
die Grenzlinie zu Frankensteins Monster auf. Es geht auch um
die zweite Haut als Schaukörper. Um die Körperfotografie
zwischen Natürlichkeit und Manipulation. Beispiele von grotesken
Körperformen in der Mode, bei denen es um die Vergrößerung
bestimmter Körperpassagen geht.
Es scheint mir eigentlich recht erbärmlich zu sein, wenn
Menschen durch Kosmetik, durch Mode, durch sonstige Attribute
so gesehen werden wollen, wie es die gesellschaftliche Leitkultur
vorschreibt. Dies geschieht in dieser Ausstellung derart exponiert,
dass es auch dem unkritischsten Liebhaber schöner
Darstellungen sichtbar wird.
-
- 5. Die Diktatur des Schönen
Bilder müssen schön sein, denn sonst verkaufen sie
sich nicht. Schönheit jedoch verkauft sich. Mit Schönheit
in der Abbildung des Menschen lassen sich auch recht unschöne
Artikel verkaufen. Die Diktatur des Marktes führt demnach
zur Diktatur des Schönen. Ohne Marktdruck würden wir
Anderes als schön empfinden? Ist die Realität unschön
und deshalb wollen wir sie geschönt bekommen? Was ist denn
schön?
Was schön ist, scheint festzustehen. Da gibt es Abstimmungen
über Bilder, Tabellen, nach denen als schön geltende
Menschen auf besonders schön empfundenen Bildern und in
als schön angesehenen Szenen oder vor schönen Hintergründen
dargestellt werden. Man will herausgefunden haben, dass es ein
ganz bestimmtes Abmessungsverhältnis von der Länge
der Glieder zur Breite gibt, dem Verhältnis zwischen den
einzelnen Gesichtspartien, nach dem ein Mensch als schön
empfunden wird. Da stellt sich die Frage, ob die Menschheit ihre
eigen Ästhetik entdeckt hat, oder ob sie an solch eine Ästhetik
angepasst wurde. Und diese Ästhetik gibt es nicht nur für
die Betrachtung des Körpers, sondern auch für die Betrachtung
der Landschaft, Städtebilder, überhaupt der Bilder.

Raffinierte Zeichenautomaten, mit denen im Mittelalter zu zeichnende
Objekte auf die Leinwand projiziert wurden oder mit denen die
Landschaft in zu übertragende Parzellen aufgeteilt wird,
diesen Geräte wurden schon im Mittelalter der Goldene Schnitt
oder andere Merkmale eingegeben.
-
- 5.1. Pornotopische Techniken des Betrachtens
nennt Linda Hentschel ihre Arbeit über Raumwahrnehmung
und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne,
Studie zur visuellen Kultur Band 2, erschienen im Jonas Verlag
Marburg.
In ihrer Einleitung schreibt die Autorin: Ein Hauptanliegen
ist es, die Geschichte des Sehens auf ihre Faszination hin zu
befragen, räumliche Settings (wie z. B. Landschaften, Städte,
aber auch Interieurs)in Metaphern des weiblichen Körpers
zu erfahren. Scheinbar unabhängig von sich wandelnden Theorien
über die visuelle Wahrnehmung seit der frühen Neuzeit
hält sich diese Überblendungslust von Raum und Frau
erstaunlich hartnäckig. (S. 8) Von Penetration
in Zusammenhang mit visueller Wahrnehmung und dem Umgang mit
dem medialen Raum zu sprechen, ist mehr als ein simples Wortspiel.
Penetration kann sowohl eine körperliche Technik als auch
eine Technik des Betrachtens und Agierens in Räumen sein.
(S. 9)

Körpergrenzen Raumöffnungen: Der Wille
zum reinen Sex und der Penetrationskonflikt der Zentralperspektive
nennt die Autorin den ersten von 3 Themenbereichen, die in Kapitel
unterteilt sind. Ein solches Kapitel heißt Die Zentralperspektive:
Ein visueller Raumpenetrationsapparat. Hier lesen wir über
die Bilder von Courbet es sei möglich, auf dem Feld
des Sehens eine visuelle Deflorationslust ... ausfindig zu machen.
(S. 21)
Der zweite Bereich heißt Körperöffnungen
Raumgrenzen: Zur Geschichte der Pornographie als Schattenseite
des reinen Sex. Hier erfahren wir u.a., dass das staatliche
Verbot von Pornographie diese überhaupt erst erzeugt habe.
Und sie sieht den Gegensatz zwischen Obszönität und
Schönheit. Sie beschreibt auch, dass im 19. Jahhundert nicht
die Darstellung, sondern das Hinsehen für die Obszönität
verantwortlich gemacht wurde. Und damit dies funktioniert,
... muss der Augensinn des Betrachtenden als erziehbar vorausgesetzt
werden: Nicht das Nackte ist unsittlich, schrieb
ein Arzt dieser Zeit, sondern die Augen des Betrachters.
Derjenige, der im Nackten nur das Weib sieht, der über den
ersten sinnlichen Eindruck nicht herauskommt und sich von ihm
beherrschen lässt, ist unsittlich und überträgt
seine eigene
Unvollkommenheit
auf den Gegenstand, den er betrachtet. (S. 56) Die Autorin
meint: Kunst und Pornographie bedienen sich beide der Schaulust,
stellen jedoch den voyeuristischen Blick unterschiedlich aus.
Und vermutlich liegt hierin auch das Obszöne der Pornographie:
Nicht weil sie alles zu sehen gibt, sondern weil sie das mittels
Normierungsmaschinerien produzierte Begehren der Betrachtenden,
alles oder nichts was auf das Gleiche hinausläuft
sehen zu wollen, mitinszeniert. (S. 56) Der dritte
Teil des Buches heißt Pornotopische Techniken des
Betrachtens: Die Kunst der maximalen Sichtbarkeit und die Grenzen
des visuellen Feldes.
Die hier vorgestellten Thesen sind absolut bedenkenswert. Allerdings
kann ich als schwuler Mann die Begrenzung der pornographischen
Sichtweise auf die Frau in ihrer Absolutheit nicht bestätigen.
Viele Künstler durch alle Jahrhunderte bevorzugten männliche
Objekte der Lust. Das Erotische gilt uns als das Schöne.
Und es ist durchaus möglich, dass wir z.B. beim Betrachten
einer Landschaft das als schön empfinden, das eine eher
erotische Symmetrie aufweist. Das stört uns aber nicht.
Auf jeden Fall kommt die Autorin in ihrer Arbeit zu Ergebnissen,
die sich mit denen überschneiden, auf die wir über
andere Untersuchungen auch kamen: Mit der Einführung
des Begriffs der pornotropischen Techniken des Betrachtens leistet
sie zudem einen Beitrag, Praktiken der Grenzziehung zwischen
einer sogenannten obszönen pornographischen Schaulust auf
Körperposen und der vermeintlich hehren künstlerischen
Repräsentation weiblich konnotierter Bildräume neu
zu überdenken, schreibt der Verlag.
- 5.2. Lust am Betrachten, Hinterfragen und
Erkennen, Lust am Entlarven, Aufdecken und Darstellen
Die Artikelreihe Unsere Körperwelten dient,
wie die ganze Zeitschrift LUST, der Aufklärung, also dem
kritischen Hinterfragen aller Phänomene. In der Literatur
wie auch in anderen Bereichen der Kultur gibt es den Wechsel
der Zeitalter der Aufklärung und der Gegenaufklärung.
In den 60er Jahren bis weit in die 70er Jahre existierte eine
große Lust in der Gesellschaft, den Dingen auf den Grund
zu gehen, die Dinge zu analysieren, Erkanntes in die Lebensentscheidungen
und politischen Entscheidungen einfließen zu lassen. Es
sind dies Zeiten des Wandels und der Neuerungen. In den Zeiten
der Gegenaufklärung geht es um die Mystifizierung der Zusammenhänge,
um eine verstärkte Hinwendungen zu Religionen, um die Suche
nach Harmonien.
Um die Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu lösen,
sucht man in den Rezepten und
Mythen
der Vergangenheit nach Lösungen.Die LUST ist also an Aufklärung
orientiert, auch wenn das im Moment wenig Konjunktur hat. Alle
Mythen, Religionen, Ismen, Ideologien betrachten wir skeptisch.
Die Reihe Unsere Körperwelten dient also, wie
die ganze Zeitschrift, nicht der erotischen oder ästhetischen
Faszination, nicht der Bestätigung irgendeiner Ideologie,
sondern der Faszination am Erkennen der Hintergründe und
der Zusammenhänge. Selbstverständlich geht es beim
Betrachten der Räume und der Körper um die Lust des
Betrachtens. Und an Lust, selbstverständlich auch an sexueller
und körperlicher Lust, ist aus unserer Sicht überhaupt
nichts negativ zu Bewertendes.
Die Formen der Darstellung des menschlichen Körpers dienen
also objektiv, auch wenn das subjektiv nicht wahrgenommen wird,
das haben uns die verschiedenen Themen in diesem Beitrag erkennen
können, entweder der Normierung, Leitbildschaffung usw.,
auch und gerade, wenn sie scheinbar unpolitisch nur
Kunstwerke oder Pornographie sind. Andererseits können sie
auch der Aufklärung und der Entlarvung dienen, der Darstellung
des Menschens, wie er ist. In beiden Fällen bedienen sie
die Schaulust. An Schaulust ist nichts, dessen sich die Menschen
schämen müssten, auch wenn sie sich von erotisch wirkenden
Darstellungen erotisiert fühlen.
In der 78. LUST haben wir einen Frauen-Bildband sowie einen Männer-Bildband
mit sehr erotischen und sexuellen Bildern vorgestellt, die uns
gefallen haben. Diese Bilder aus den 50er und 60er Jahren gefielen
uns deshalb, weil die Gesichter der abgelichteten Akteure verrieten,
dass sie lustvoll und heiter beim sexuellen Posieren dabei waren,
vielleicht sogar neckisch. Das unterscheidet von solchen sexuellen
Darstellungen heutiger Zeit, die makellos mit makellosen Models
inszeniert sind, wie in der Werbebranche, mit Gesichtern, denen
man den Ernst der Rolle beziehungsweise der Erwerbsarbeit ansieht,
auch dann, wenn sie, uns durch die Kamera ansehend, erotisch
beeindruckte Gesichter spielen.
5.3. Erotisierte
Schau-LUST
Es gibt offensichtlich keine wertfreie Zentralperspektive,
das Empfinden von Schönheit hat eine erotische Komponente.
Na und? Was soll daran schlecht sein? Schlecht scheint nur die
Funktionalisierung des Blickes oder der Darstellung sein. Nun
stellen wir Euch also 2 Bildbände vor, die im Konkrsbuchverlag
Claudia Gehrke erschienen sind, mit Arbeiten von 2 unterschiedlichen
FotografIn-nen.
-
- 5.3.1 ... aller Liebe Anfang
von Anja Müller, erschienen im Konkusrbuch Verlag Claudia
Gehrke. Farbige Bilder von Situationen, in denen die Liebe beginnt.
Spannung, ein sinnlicher Blick, eine unbeabsichtigte Geste, ein
aufregender Körper, ein verzauberter Raum, ein zartes Lächeln
und die Liebe geht los. Keine eindeutige schwulen oder
lesbischen oder heterosexuellen Bilder, auch nicht alles drei
zusammen, eben einfach erotische Bilder von Menschen.
Die Bilder sind alle zärtlich, zurückgenommen, unaufdringlich.
Die dadurch veralten wirkende Erotik zeigt sich in de Gesichtsportraits
ebenso wie in den Abbildungen größerer Körperpartien.
Nacktheit ist nicht die Grundlage dieser Erotik, und mit abgebildete
Geschlechtsorgane bzw. Geschlechtsteile stehen nicht im Mittelpunkt
des Bildes, zeigen sich dem Betrachter erst, wenn er den Blick
suchend über das Bild schweifen lässt.
- Dabei geht es durchaus um Sexuelles, aber
nicht vorrangig für den voyeuristischen Betrachte, sondern
zwischen den fotografierten Menschen. Die aus (Ost)Berlin stammende
Fotografin Anja Müller lässt uns hier an einem erotischen
Blick auf die Welt teilnehmen, der dezent erotisch ist, auch
wen Geschlechtliches zu sehen ist, der aber nicht als Anzüglich
oder sexuell empfunden wird. Im Gegensatz zur bewussten Pornographie,
wo die Akteure mit dem Betrachter zu flirten scheinen, beziehen
sie sich hier eher aufeinander.
-
- 5.3.2. Subversiv,
Fotografien 1988 2004, erschienen im Konkusrbuch-Verlag
Claudia Gehrke. Erotische Portraits aus der internationalen
Kunst- und Queerszene. Der Künstler Rinaldo Hopf bringt
vielfach prominente Persönlichkeiten, KünstlerInnen,
Models, Pop- und Pornostars vor die Kamera. Die so entstandenen
Portraits sind subjektiv, jenseits jeder Zuordnung und teilweise
unverschämt sexuell dabei glamourös und verstörend
schön. Eine Auswahl dieser sehr malerischen Fotoarbeiten
wird hier erstmals in einem Buch versammelt, schreibt der
Verlag.

Hier sind Menschen zu sehen, die sich ganz bewusst vor die Camera
stellen und in die Camera schauen, also dem Betrachter in die
Augen. Und es scheint so, dass es bei den Bildinszenierungen
auch darauf ankommt, das diesen Menschen Wichtige mit sehen zu
lassen. Auch in diesem Bildband kommt es nicht im Wesentlichen
auf Nacktheit an, auch wenn sie vorkommt, wohl aber auf Erotisches
beziehungsweise eindeutiges Sexuelles. Auch in diesem Bildband
hat man nicht den Eindruck, das die Bilder pornographisch zum
Betrachter sehen, sie sind eher damit beschäftigt, sich
darzustellen, wenn sie in die Kamera, also zum Betrachter sehen.
-
- 6. Literatur
Der imperfekte Mensch
Der [im-]perfekte Mensch - vom Recht auf Unvollkommenheit, Hrsg.:
Deutsches Hygiene-Museum Dresden und Aktion Mensch, im Hatje-Cantz
Verlag, 270 S., 140 Abb., davon 94 farbig, Broschur 19,80 Euro,
ISBN 3-7757-0997-5
- Geschlechterwechsel
Von Volkmar Sigusch, erschienen 1992 im KleinVerlag Hamburg,
ISBN 3-922930-07-7, aber dort vergriffen. Angeblich hier nun
noch zu erhalten: Volkmar Sigusch Geschlechtswechsel,
Rotbuch Verlag, 138 Seiten zu 8,60 Euro, ISBN 3-88022-359-9
-
- The Gender Frontier
Mariette Pathy Allen The Gender Frontier, Kehrer
Verlag, 168 Seiten mit 109 Fotos, 32,00 Euro, ISBN 3-936636-04-4
Tarnsgender ist das bessere Wort, den Gender meint das Geschlecht
im sozialen Zusammenhang. Sex steht für das Geschlecht im
biologischen Zusammenhang. Menschen, die sich in der Gesellschaft
als anders empfinden, als sie sexuell definiert werden. Sie werden
oftmals eindeutig einem Geschlecht zugeordnet, mit dem sie nicht
leben können und wollen. Dieses Umdefinieren durch die Gesellschaft
geschieht teils durch den Chirurgen nach der Geburt, teils nach
den äußeren biologischen Merkmalen des Körpers,
obwohl sie eine andere geschlechtliche Identität haben.
Die Bilder zeigen Menschen, die nicht auf dem ersten Blick einem
Geschlecht zuzuordnen sind, beziehungsweise die durch spätere
Operationen ihre körperlichen Merkmale ihrer Identität
angepasst haben. Ist das ein Vorführen, wenn diese Menschen
in einem Fotobildband ausgestellt werden? Das wäre der Fall,
wenn etwas Anrüchiges und nicht eine andere Normalität
damit verbunden wäre. Der Bildband hilft zu verstehen, dass
unser Verhältnis zu starren Geschlechtergrenzen fragwürdig
ist.
-
- Body Extensions
Claudia Pantellini, Peter Stohler (Hrsg.), Body Extensions,
Der Wunsch nach dem idealen Körper, Arnoldsche Verlagsanstalt,
2004, dt./ fr., 192 S., 123 Abb., 24,80 Euro, ISBN 3 89790 204
4
-
- Pornotropische Techniken des Betrachtens
Linda Hentschel Pornotopische Techniken des Betrachtens
- Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten
der Moderne - Studien zur visuellen Kultur Bd. 2, Jonas
Verlag, 192 S., 49 Abb., geb., 25,00 Euro, ISBN 3-89445-287-0
-
- ... aller Liebe Anfang
Anja Müller ...aller Liebe Anfang, konkursbuch,
216 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Format 22,5 x 22,5 cm,
29,90 Euro, ISBN 3-88769-335-3
Farbige Bilder von Situationen, in denen die Liebe beginnt. Spannung,
ein sinnlicher Blick, eine unbeabsichtigte Geste, ein aufregender
Körper, ein verzauberter Raum, ein zartes Lächeln
und die Liebe geht los. Keine eindeutige schwulen oder lesbischen
oder heterosexuellen Bilder, auch nicht alles drei zusammen,
eben einfach erotische Bilder von Menschen.
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- Subversiv,
Rinaldo Hopf Subversiv, Großformat 30 x 24
cm, ca. 120 Farbfotos, Fadheftung, Texte von Ralf König
(Comiczeichner) und Thomas Sokolowski (Director Andy Warhol Museum),
24,90 Euro, ISBN 3-88769-333-7
Fotografien 1988 2004, Erotische Prtraits aus der internationalen
Kunst- und Queerszene. Der Künstler Rinaldo Hopf bringt
vielfach prominente Persönlichkeiten, KünstlerInnen,
Models, Pop- und pornostars vor die kamera. Die so entstandenen
Portraits sind subjektiv, jenseits jeder Zuordnung und teilweise
unverschämt sexuell dabei glamourös und verstörend
schön. Eine Auswahl dieser sehr malerischen Fotoarbeiten
wird hier erstmals in einem Buch versammelt.
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